Latein,  Pädagogik,  Technik,  Unterricht

Wörterlernen 2.0

avat_schielen_technikKatastrophe bei meinen Sechsten. Die Schulaufgabe ist – mal wieder – unterirdisch ausgefallen. Die 4-Minus-Mentalität meiner Schützlinge macht sich in allen Fächern bemerkbar, aber nirgendwo haut sie unbarmherziger zu als in Latein. Ich habe gepredigt, geübt, mit Eltern Kontakt aufgenommen, vorentlastet, wo’s nur geht. Aber es hat nichts geholfen.
Nach dem jüngsten Debakel musste ein Erste-Hilfe-Paket geschnürt werden. Deswegen habe ich den Schülern zuerst einmal eine Fehleranalyse verordnet, damit ich wusste, wo der Schuh genau drückt. “Ihr müsst mehr lernen” ist ein bisschen arg generisch. Aber wenn man sagt “Ihr müsst mehr Kasuslehre aufgeschaufelt bekommen” ist die Anweisung konkret und damit schaffbar. Also galt es Fehler zu zählen, zu kategorisieren und aufzuschreiben. Für viele sichtlich das erste Mal, dass sie sich mit ihren Fehlern beschäftigt haben (ich schreib nur jedem einen Dreizeiler unter die Schulaufgabe, aber wer liest das schon? Gut zu wissen…). Das Ergebnis war eindeutig.
skitch
Die Lücken im Wortschatz sind immens. Trotz ständiger Wiederholung sitzt vor allem das alte Vokabular hinten und vorne nicht. Wer die unregelmäßigen Verben halt nur “so ein bisschen” (O-Ton!) lernt, muss sich nicht wundern, wenn er sie alle durcheinander bringt. Egal ob concedere, condere, conspicere, contendere oder consuescere. Für die Sechsten ist das einerlei. Heißt alles dasselbe… Deswegen bin ich neue Wege gegangen. Neue digitale Wege.

Seit drei Wochen wird für jede Stunde ein Protokollant bestimmt, der jedes Wort, das nicht gewusst, verwechselt oder von mir genauer nachgefragt wird, in seiner Grundform mitgeschrieben und online in eine Liste eingetragen. Das lässt sich mit Etherpad oder das noch viel flinkere zum-pad ebenso bewerkstelligen wie mit GoogleDocs. Ich habe letzteres gewählt, weil sich die Sechste seit diesem Jahr in Informatik mit Word auseinandersetzt und viele ihrer Kenntnisse aufgrund des ähnlichen Layouts leicht umsetzen können. Das Eintragen der Wörter macht den Schülern großen Spaß. Viel zu großen. Einige ergehen sich in wahren Layout-Höhenflügen und markieren, färben ein, bauen mit dem Zeichentool Klassenlogos oder fügen wahllos Tabellen ein – alles im selben Dokument. Die Datei sah daher nach nur zwei Tagen aus, als hätte man eine Bande Vierjähriger darauf losgelassen. So richtig verübeln kann ich’s ihnen aber nicht, solange die Schüler ihren Job tun und die Liste erstellen. Denn damit lassen sich einige Dinge anstellen, die das Wörterlernen sinnvoll unterstützen und sich deutlich vom üblichen Wortschatzlernen im Schulbuch abheben.

skitch
Unsere ersten Wortschatzlisten, (noch) aufgehübscht mit Unterstufen-Artwork
  • Da die Schüler auf den Listen lediglich die Grundformen vorfinden, müssen sie die restlichen Formen selbständig ergänzen. Für motorische Lerner perfekt, um nachzuprüfen, ob man schon alles drauf hat oder sich was vorspielt. Papier kann man nicht anlügen. Steht hinterher beim Nachprüfen ein Fehler, ist das halt so. So sehen die Schüler sofort, wo der Schuh drückt.
  • Mit einem Mausklick lässt sich die Wortliste umarrangieren – letztlich wie beim Durchmischen eines Zettelkastens. Vor allem die Kandidaten, die gerne ähnlich anlautende Wörter durcheinander bringen, profitieren davon, denn mit einem Mausklick auf alphabetisches Ordnen stehen die Übeltäter schwarz auf weiß untereinander. Zwar ist das bei alphabetischen Wiederholungswortschätzen im Buch ganz genauso. Hier ist der Schüler allerdings wieder durch das schriftliche Ergänzen zu viel mehr Aktivität angehalten als beim Wiederholen eines bereits abgedruckten Wortschatzes, wo man nur lesen und vorsagen kann. Auch für eventuelle Merkhilfen und Eselsbrücken ist auf den Schülerlisten Platz. Was ähnliches in ein Schulbuch zu kritzeln, dürfte wohl den Drachen der Schulbibliothek zur Folge haben.
  • Die Listen lassen sich ganz hervorragend in einige Apps 2.0 einspeisen und für Lernzwecke verwenden. Ich habe mal das Experiment gewagt und aus der Liste für die Schüler eine Word Cloud gebastelt. Online stehen dafür viele hübsche Seiten zur Verfügung, ich habe mich aber letztendlich fürs recht schnöde gehaltene Wordle entschieden. Wieso? Die anderen Lösungen sind grafisch zu verspielt und schummeln bei der Darstellung zugunsten der Ästhetik. So werden viele der Wörter aus den Listen vervielfältigt, um die gewünschte Form zu erreichen, ganz egal, wie häufig sie auf der Liste stehen. Das möchte ich aber nicht. Ich will eine exakte Darstellung, die genau nur die Wörter in der Anzahl darstellt, wie sie auch von den Schülern eingetragen worden ist. Der Clou ist nämlich der: Wordle stellt die Wörter, die mehrmals genannt werden entsprechend größer dar als die, die nur einmal eingetragen wurden. Für die Wörterliste bedeutet das: Wörter, mit denen mehrere Schüler Probleme hatten, sind deutlich größer und damit auffälliger. Das kann ich mir beim Lernen prima zunutze machen.
skitch
Unsere erste Word Cloud

Die Schüler sind angehalten, bei der Wiederholung mit den größten Wörtern anzufangen. Dadurch, dass wir beim Wiederholung die großen Problemfälle an den Beginn der Wiederholungssequenz stellen, wo die Konzentration bekanntermaßen noch am höchsten ist, und auch entsprechend groß darstellen lassen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Schüler diese Vokabeln behalten, entsprechend hoch. Noch besser: Die Schüler sollen jede der Grundformen farbig nachfahren, sobald sie sie richtig haben. Damit fördern wir einerseits noch einmal die motorische Repräsentation, gleichzeitig sehen die Schüler so ganz deutlich, welche Formen sie schon können und welche noch nicht (diese sind ja noch grau). Vor allem letzteres Verfahren hat bei den Kleinen ganz super gefruchtet. Das Wörterlernen und -wiederholen ist für sie zu einem riesigen Highlight geworden. Jede Stunde gehen dafür fast 10 Minuten drauf, was die Progression im Unterricht schon immens nach unten schraubt. Aber in diesen zehn Minuten habe ich sie alle fokussiert bei einer Unterrichtsphase, in der jeder sein Erfolgserlebnis hat – vorausgesetzt er oder sie lernt dafür auch entsprechend. Um da auch eine entsprechende Konsequenz reinzubringen, teste ich alle zwei Wochen die Vokabeln aus zwei Word Clouds in einem angesagten Wortschatztest. Das ist überschaubar, das ist transparent. Erste Erfolgsergebnisse zeigen sich schon. Hoffen wir mal, dass sich das auch in der nächsten Schulaufgabe niederschlägt. Da werden die Word Clouds nämlich neben dem aktuellen Lernvokabular für den Übersetzungstext verbraten. Muss doch mit dem Teufel zugehen, wenn die Anzahl der Wortschatzfehler dieses Mal nicht zurückgeht!

Update 2017: Wie ich mit Ärger feststellen musste, funktioniert Wordle unter Windows 10 nur noch bedingt, bzw. gar nicht, wenn man mit dem Chrome-Browser arbeitet. Dank Martina Grosty habe ich den Tipp bekommen, das ganze noch einmal über den Internet Explorer zu versuchen, der sich in Windows 10 nach wie vor im Hintergrund schüchtern versteckt (Achtung, das vom Internet Explorer bekannte “e” in der Taskleiste verlinkt nicht auf selbigen, sondern den Nachfolger Edge). Für den Internet Explorer muss man in der Suchleiste danach forschen.

Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.
0

17 Comments

  • Frau Henner

    Eine wirklich schöne Idee – die Clouds finde ich auch ästhetisch sehr ansprechend! Selbst wenn ich mich wirklich wundere, warum so einfache Vokabeln wie rex und res so viel größer sind als für meine Begriffe schwierige wie descendere… aber das scheint bei deinen Sechsern sowieso keiner Logik zu folgen. Viel Erfolg! Ich grübele schon, wo man solche Listen in Deutsch gebrauchen könnte…

    • herr_mess

      Oft sind die kleinen Wörter größer, weil sie miteinander verwechselt werden. Z.B. Rex und Res ist für einige absolut austauschbar. Wenn du weitere Möglichkeiten für Word Clouds rausfindest, sag Bescheid. Würde mich sehr interessieren..,

  • Frau Machann

    Ich nehme die Clouds gerne als Unterrichtseinstieg. Wikipediaartikel reinkopiert, Hauptbegriffe rausgelöscht und drüber spekulieren lassen, worum es geht.
    Alternativ auch als Zusammenfassung einer Unterrichtseinheit.

  • KC

    Hmmm hmm, dass Schüler sowas wie rex und res durcheinander schmeißen hab ich noch nie gehört.
    Kann es sein, dass neben einem Zuwenig des Vokabellernens auch noch hinzukommt, dass die Schüler versuchen sich das in den Kopf zu hauen, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich lernen? Dass die quasi den Karton in ihr kleines Regal im Kopf stellen, aber nicht wissen, was drin ist.
    Weil solche Verwechslungen wie res und rex sprechen eigentlich dafür, dass sie sich die Wortinhalte nicht klarmachen.
    Ich hatte auch schon mal überlegt, ob es sinnvoll ist, mit den Schülern die ganz genauen Wortbedeutungen mancher Wörter zu erarbeiten, so wie wir das in den Synonymiken finden, evtl. kombiniert mit kleinen spielerischen Übersetzungen aus dem Deutschen ins Lateinische.

    • herr_mess

      Das Problem ist uns bewusst. Ein nicht unbeachtlicher Teil der Kleinen geht bei den Wörtern offensichtlich ganz klar nach der Lautung. Die Wörter werden im Unterricht schon von mir erklärt. Mit Etymologien, Fremdwörtern oder bescheuerten Eselsbrücken. Aber das fruchtet nun mal leider nicht bei allen. Dazu kommt auch das eingeschränkte Vokabular, das den Kleinen beim Lernen oft Probleme beim Erschließen macht. Natürlich kann ich bei rex erzählen, dass der weibliche Gegenpart reg-ina ist, dass der Bereich, über den sie herrschen reg-num, genannt wird und die Tätigkeit reg-ere. Aber wenn sie von diesen Wörtern noch kein einziges kennen, sind solche Erklärungen nutzlos. Und schwupps ist rex wieder in der Lautungsschublade, die es sich mit res teilen muss.

      • KC

        Frag die betreffenden Schüler doch mal spaßeshalber, ob sie in der Grundschule mit diesen phonetischen Tabellen Schreiben ( Lesen durch Schreiben) gelernt haben. Da könnte ein Zusammenhang bestehen…
        Das löst das Problem zwar noch nicht, aber man weiß vll schon mal, wo es herkommt.

  • tinatainmentia

    Cool, Herr Mess! Sowas hätte ich auch gerne gehabt zu meiner Schulzeit! Bei uns war alles ganz “oldschool” mit Vokabelheft. 😉
    Ich muss aber sagen, dass ich mir in Latein sämtliche Vokabeln inkl. Zusatzinformationen (Stammformen; Genus und Genitiv und so) mit dem Programm “Navigium” raufgeschafft habe, und zwar bis zum bitteren Ende, also dem großen Latinum. 😉 Dieses Programm hat mich wirklich gerettet.
    Ach, “vir” und “vis”, da kommen Erinnerungen hoch. :mrgreen: Obwohl ich öfter mal behaupte, dass von meinem Latein nicht viel übrig ist, bin ich gerade stolz, dass ich bei den meisten Wörtern in der Liste zumindest noch die Bedeutung (naja, zumindest EINE Bedeutung… “Mann” und “Kraft” kann ich glücklicherweise auch noch auseinanderhalten! :mrgreen: ) weiß, aber nach Formen dürfte mich jetzt auch niemand mehr fragen.

  • Ecke

    Voll cool. 😀 Dann wird Latein in den oberen Klassen vielleicht nicht so.. wüst? 😀
    Uns wurde immer nur gesagt: Lernt Vokabeln. Wiederholt die. Lasst Lücken, wenn ihrs in der Übersetzung nicht wisst. Erfindet lieber nichts, was sinnmäßig passt. Nur In der 8. Klasse sah dann ein Text eben leider so aus:
    “Alexander sein Heer des Sieges oft,…”. Oder so in der Art eben. Und dann gabs darauf eben die 3 Fehler, und so insgesamt mit dem Aufgabenteil, in dem dann immer alle schön 1 oder 2 hatten, kam dann schon irgendwie ne 4 raus. Und ab der 9. hat man dann eh gesagt: Nächstes Jahr Wörterbuch. Und danach eh abwählen.
    Das, was wir alle damals nicht beachtet hatten, war die Tatsache, dass es uns nichts bringt, wenn wir dann so Sätze wie:
    “Das Orakel ist Wüste Römer des Schicksals wandern trotz Unheil”. (oder so in der Art). Weil wir dann zwar alle Helden im Nachschlagen war, aber wenn man leider die grammatikalische Konstruktion dahinter auch nicht erkennt, und in der 10. Klasse immer noch nicht weiß, was genau der “Abl Abs” ist, oder wie man einen “verschränkten Relativsatz” übersetzt.. Jah, da waren wir dann schon froh, als wir Latein endlich ablegen konnten..
    Lag aber daran, dass wir besonders in der Mittelstufe entsetzlich faul waren und einfach nicht gelernt haben.
    Wenn einem der Spaß an Latein und auch der Spaß an guten Noten in Latein schon früh durch so tolle Methoden eingeprägt wird, und man sieht, dass Latein ja auch “cool” sein kann, dann ist es später vielleicht auch nicht so eine Katastrophe.
    Top! 😀

    • herr_mess

      Optisch hübsch ist es bestimmt, aber ob’s auch tatsächlich was nützt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Schulaufgabe ist heute geschrieben worden. Der Packen liegt gerade vor mir auf dem Schreibtisch. Ich trau mich gar nicht reinzusehen…

  • Dirk Kußmann

    Hallo Herr Mess, Danke für diesen schönen Artikel. Ich finde es super, dass sie als Lateinlehrer scheinbar immer auf der Suche nach neuen Wegen sind, die es ihren Schülern leichter machen, die Lernmotivation zu erhöhen. Ich weiß aus meiner Schulzeit noch, dass es kein zweites Fach gibt, bei dem es so wichtig ist, immer am Ball zu bleiben. Als mein Sohn in der Schule Latein bekommen hat, habe ich schnell gemerkt, dass es wirklich nicht ganz einfach ist, den Kindern klar zu machen, dass die regelmäßige Vokabellernerei in Latein eine viel größere Bedeutung für den Erfolg hat als beispielsweise in Englisch. In Latein braucht man nach drei Jahren in der Klassenarbeit nun mal den Wortschatz aus Lektion 7 genauso dringend wie den in Lektion 48. In Englisch kann man da schon eher Workarounds finden. Nachdem ich keine geeignete APP zum Lernen bei Google gefunden habe (Handy haben die Kinder ja immer dabei, und im Bus zum Lernen das Buch rauszukramen ist halt eher uncool), habe ich selbst eine geschrieben. Nachdem diese APP nun eigentlich wirklich gut bewertet wird, von >5000 Schülern genutzt wird, viele Schüler mir positives Feedback geben, die APP kostenlos ist, ich damit so gut wie nichts verdiene (es reicht gerade dafür mir von Zeit zu Zeit ein neues, gebrauchtes Testgerät zu kaufen), interessiert sich bisher erstaunlicherweise kaum ein Lateinlehrer für die APP. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie die APP vielleicht mal vorstellen würden? Vielen Dank und frohe Ostern!

    • herr_mess

      Sieht nach einer sehr umfangreichen App aus. Ich schaue sie mir gerne einmal an und berichte darüber. So viel Eigeninitiative muss mehr Beachtung bekommen 🙂 Vielen Dank für den Tipp!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert