Allgemeines,  Alltag

The Day After

Ich wollte ja eigentlich nicht mehr so viel über Politik schreiben, weil es echt immer eine gewisse Reibungsfläche bietet, aber nach einer recht schlaflosen Nacht mach ich’s einfach. Ist ja auch mein Blog. Also ätsch!

Die Landtagswahl in Bayern war über die letzten Wochen und Monate eine sehr schmutzige Angelegenheit. Es wurde mehr als gepoltert. Es wurde geschimpft, geschrien, aufeinander rumgehackt und mit bislang ungekannter Polemik aufeinander eingedroschen. Dazu noch ein paar ehemaligen Tabu-Themen, eine Nazi-Flugblatt-Affäre mit echt grenzwertiger Aufklärung, und wir haben den Salat. “Ich habe echt Angst vor den Wahlen im Osten” ist einer der Sätze, der heute im Lehrerzimmer mit Abstand am meisten fiel. Gleich nach “Ich verstehe es nicht.” Ich bin einer davon.

Ich bin in den 90er Jahren aufgewachsen. ich kenne die Bilder von brennenden Asylantenheimen in Rostock und den geifernden Massen, die begeistert den Flammen zujohlen und die Toten mit Hitlergruß quittierten. Die verkohlten Ruinen von Solingen und die Bilder der verbrannten Bewohner. Die Berichte über Skinheads, die auf den Straßen so mancher Stadt nachts Jagd auf Ausländer machten. Dass diese düstere Zeit der damals noch blutjungen, wieder vereinigte Bundesrepublik einen nicht unbeachtlichen Teil der Gesellschaft auf einmal wieder vertretbar ist, ist mir unbegreiflich. Und als Lehrkraft stelle ich mir schon die Frage, wozu wir in den Schulen Konzepte wie Inklusion und Integration umsetzen, weshalb Programme wie “Schule ohne Rassismus” oder alljährlich verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten organisieren, wenn das Gegenteil für mehr und mehr Leute in Ordnung geht. Auch in der Politik, die uns vormacht, wie es geht. Laut sein. Brüllen. Diskreditieren. Eintreten. Ausgrenzen. 

Es brennt. Vorerst metaphorisch.

Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.
4.1

6 Comments

  • Ulrike

    Ich stimme komplett zu. Auch mir macht das Angst- vor allem, weil ich – als grundsätzlich positiv denkender Mensch- keine Idee habe, wie wir hier gegensteuern können. So versuchen wir es weiter, Kindern Werte zu vermitteln, in der Hoffnung, dass es Früchte trägt.

    • herrmess

      … Und es fühlt sich an, als unterrichte in einem Paralleluniversum, oder? Oder ist das dieses pessimistische Schockempfinden unmittelbar danach?

  • MagistraThuerigiensis

    Salvete omnes!
    Erst einmal ein herzlicher Dank an dieser Stelle an unseren Blogger Herr Mess, denn auch wenn ich mich auch in all den Jahren meiner Lektüre hier nie zu Wort gemeldet habe, freu(t)e ich mich immer an der Lektüre. Auch wenn ich nicht alles Technische nachvollziehen kann- theoretisch wie praktisch- es tut und tat mir gut, hier reinzuschauen und zu lesen.
    Selbst bin ich von meinen Wurzeln her aus Bayern, habe hier meine ersten beiden Fächer (D, G) studiert und das Referendariat absolviert, um dann am Ende der Ausbildungszeit mit den Worten „Für jemanden wie Sie haben wir in Bayern keinen Platz!“ in die Arbeitslosigkeit geschickt zu werden. Ich habe den Cut genutzt und habe in den letzten Jahren nicht nur in Hessen mit Latein meine dritte Fachfakultas erworben, sondern auch 10 Jahre dort aktiv im Schuldienst gearbeitet. Aus privaten Gründen bin inzwischen allerdings in Thüringen gelandet- also im Osten.
    So habe ich in den letzten Wochen doppelt Wahlkampf verfolgt: In der eigentlichen Heimat und in der letzten Wahlheimat. Und mich auch fremdgeschämt über den Wahlkampfmodus in Bayern. Aber genauso auch hat mich das Entsetzen gepackt, als ich Einblicke in die Chatverläufe der Frankfurter Polizei bekommen habe- die trotz ihrer gewalt- und kriegsverherrlichenden, frauen- und fremdenfeindlichen und letztlich rechtsextremen Inhalte mich zutiefst aufwühlen und mir die Ruhe nehmen. Wenn wir uns aktuell im Lehrerzimmer austauschen, stellen wir immer häufiger eine unglaubliche Tiefe in der Spaltung der Gesellschaft fest- die zwar durch Corona nicht verschuldet worden ist, aber damit demaskiert wurde und mit dem Verlauf und den Folgen der Pandemie noch verschärft worden ist. Gleichzeitig erleben als „Zugroaste“ mein Mann und ich gleichzeitig die Thüringer und damit den Osten live- und da kommen oft ganz andere Dinge ans Licht, die in den Medien der alten Bundesländer kaum oder gar nicht beachtet werden. Nur ein paar Beispiele:
    So fühlen sich viele Thüringer wirtschaftlich abgehängt und nicht ernst genommen von „denen da oben“ (vulgo: je nach Kontext Landesregierung, Bundesregierung, EU). Ein Blick in die Fakten zeigt: Je nach Statistik erhalten 60-70% der in der Wirtschaft oder im DL- Sektor beschäftigten Thüringer maximal den aktuellen Mindestlohn und sind aktuell das Bundesland mit der niedrigsten Rente. Praktisch jeden Tag kann ich hier die Zeitung/Nachrichten lesen und wieder von Pöbelei/Handgreiflichkeit/tätlicher Angriff/ Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft gegenüber Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine/ Syrien etc. erfahren. Ich muss nur im Supermarkt einkaufen gehen, um die Wut der Menschen zu hören, dass „sowas“ aus dem Osten „alles Geld in den Arsch geblasen“ bekommt. Wir hatten monatelang die bundesdeutschen Spitzenplätze in Sachen Inflation. Im Supermarkt hat es zum Teil eine Security gebraucht, damit sich die Rentner nicht um die billigsten Produkte prügeln. Mir wurde mit Rollatoren der Weg zu den Sonderangeboten verstellt. O- Ton der Senioren: „Sie sind jung- Sie haben gefälligst Platz für uns zu machen! Sie haben ja das Geld!“ Oder als mein Mann und ich unser Brennholz für den Kamin im Carport gestapelt haben, kamen zeitgleich zufällig Anwohner unserer Straße vorbei und sagten mit voller Anerkennung: „Jetzt kann der Putin kommen!“ Ich denke an meinen ersten Thüringer Chef, der zu mir gesagt hat: „Bleiben Sie demütig! Sie gehören mit der Sicherheit Ihres Jobs und Ihrem Gehalt zu den Spitzenverdienern der Region!“ Unsere Region (Thüringen West) steht tatsächlich insgesamt gut wirtschaftlich da (Wachstum, Arbeitslosenquote)- aber je weiter man in den Osten kommt, geht beides deutlich und spürbar nach unten. Gleichzeitig geht parallel der Zuspruch zur AFD hoch. Die Wirtschafts- und materielle Habenseite ist also das eine, was der AFD wohl hilft- aber das wird nicht nur ein Ostproblem sein. Im Schulalltag merken wir als Kollegen diese finanzielle Schieflage spätestens, wenn Schulfahrten anstehen. So habe ich böseste Emails bekommen, als meine Lateinexkursion letztes Schuljahr über 2 Tage 101 Euro gekostet hat.
    Und noch viel stärker erleben wir eines: Gleichgültigkeit und Egoismus. Da zählen nur noch der Blick und der Einsatz nur für sich selbst, keinerlei Mitdenken für den Anderen, eher ein Abstrafen, Abwatschen, Ausbooten der Mitmenschen. Mit Methoden, die einem alles zu Haare stehen lassen. Die oft aber schon längst im Westen bewährtes Mittel sind- und meine Mitmenschen hier von „Wessis“ gelernt haben. Ein „Wir“ gibt es nicht. Ein „America first“ wird dann ganz schnell zum „das Beste ist gerade gut für mich allein“. Das alles mag vielleicht mit dem ersten genannten Punkt zusammenhängen.
    Am meisten wiegt aber in meinen Augen der eigentliche Punkt:
    Die Demokratisierung des Ostens hat (aus Ostsicht) nicht wirklich geklappt. Das demokratische System in seiner Funktion erleben sehr viele Menschen als übergestülpt. Viele Menschen, welche im Rahmen der friedlichen Revolution auf die Straße gegangen waren, sind häufig sehr basisdemokratisch eingestellt und hatten/haben viele (kreative) Vorstellungen zu einer persönlichen und direkten Gestaltung einer Demokratie. Und fühlen sich nun ungehört bis übergangen, weil es Elemente wie Volksabstimmungen in unserer Demokratie etc. nicht gibt- Stichwort viel zu wenig direkte und unmittelbare Partizipation. Sie fragen sich: Warum wurde keine Gesamtdeutsche Verfassung im Rahmen der Wiedervereinigung ausgearbeitet? Gleichzeitig fühlen sie sich in ihren Ideen nicht ernst genommen: Praktisch alle großen Parteien schickten nach der Wende ihr Spitzenpersonal an die Spitzen der neuen Landesverbände- und die, welche die demokratische Wende herbeigeführt hatten, wurden oft verdrängt oder kritisch beargwöhnt. Was es nicht besser macht: Unser aktueller Landesminister ist kein Thüringer. Der Spitzenkandidat der AFD übrigens genauso wenig. Das gleiche Vorgehen haben viele Thüringer an ihren Arbeitsplätzen erlebt. So auch meine Kollegen in der Schule. Hier wurden ganze Schulleitungen abgesetzt und wenn überhaupt durch westliche Kollegen ersetzt. Die Folge waren schulpolitisches Chaos und drastischer Rückgang der Unterrichtsqualität. Aktiven Kollegen wurde häufig einem Generalverdacht auf Kooperation mit der SED- Regierung unterstellt, der sich z.B. an der Fächerverbindung festmachte. So galt z.B. eine Fachkollegin von mir deshalb als politisch unzuverlässig, da sie Russisch unterrichtete. Die Folge war in ihrem Fall- obwohl gerade fertig mit abgeschlossenen Vorbereitungsdienst- Arbeitslosigkeit und erzwungene Weiterqualifikation- in Hessen. Bedeutete einige Jahre harte Arbeit parallel zu Aushilfsjobs zwecks Geldverdienst-, sehr hohe Arbeitsbelastung und einen langen Pendelweg. Ich habe aber auch Kollegen, welche gerade in dieser Zeit (noch) nicht Lehrer werden konnten- weil sie z.B. nicht bereit waren, der Verpflichtung zu folgen, als Gymnasiallehrer in die SED einzutreten. Dennoch hatten diese große Schwierigkeiten, in den Umbruchzeiten eine gute Arbeit zu finden und fanden sich oft in schlecht bezahlten Übergangslösungen. Die „Wende“ ist für viele Menschen im meinem neuen Umfeld eine große Zäsur in beruflicher Hinsicht- egal, in welchem beruflichen Sektor und häufig eine starke politische Demoralisierung- von Menschen, welche eigentlich häufig dazu bereit gewesen wären, die Demokratie und die Gesellschaft aktiv mitzutragen und zu gestalten.
    Man kann dieser Herausforderung nun intellektuell begegnen- ein Weg, den wir als Lehrkräfte häufig beschreiten. Er ist wichtig, richtig und auf jeden Fall erforderlich, weil er die Basis für die weiteren Schritte legt. Viel wichtiger ist aber, dass bereits die jungen Menschen ihre eigene Verantwortung und auch Bedeutung für unsere Gesellschaft und unser politisches System erkennen und einüben. Ich merke auch, dass sich meine Schüler regelrecht gebraucht fühlen wollen- und wenn es nicht klappt, mit Frust bis Gleichgültigkeit und Hass auf „das System“ reagieren. Wirtschaftlich gesehen haben hier aktuell viele junge Thüringer eine Antwort: Sie ziehen fertig in Thüringen ausgebildet nach Bayern oder Baden- Württemberg, weil dort nach außen hin scheinbar alles stimmt: besseres Gehalt und mehr Urlaub, finanzielle Unterstützung beim Umzug. In der Konsequenz bedeutet das aber für unsere Region, dass wichtige Arbeitskräfte fehlen- die dann häufig nicht besetzt werden können. Denn auch wenn die Parolen anders lauten, sind nicht die Flüchtlinge jedweder Herkunft die Gewinner dieser Lage. Aber sie sind es, die aktiv im Alltag die Ablehnung/ den Hass der Menschen zu spüren bekommen und erleiden müssen. Politisch gesehen sollte unsere Politik endlich aufwachen und sich mit den Inhalten/Forderungen der blauen Partei auseinandersetzen. Ihre aktuelle Dämonisierung macht eher neugierig oder fordert eine Trotzreaktion v.a. bei den jungen Wählern. Wir müssen aufhören, mit Stimmungen und Emotionen Politik zu machen, sie zu stimulieren und zu schüren- eine Rückkehr zu einer sachlich- faktenbasierten Politik und einem ebensolchen Diskurs ist das Gebot der Stunde. Jenseits von Fake News und bloßem Zwitschern im äußerst begrenzten Zeichenumfang. Noch nie war es so schwierig für mich, das Thema Erörterung zu behandeln. Oder auch nur Rechercheaufträge zu erteilen: Hier gilt es viel zu lernen und viele Kompetenzen zu trainieren. Ich wünsche mir einen Politikstil, der für die Menschen erkennbar viel mehr ihre Ängste ernst nimmt, anhört und aufgreift. Denn wir haben verlernt, einander zuzuhören und sachbezogen zu argumentieren und wir haben verlernt, einander zu vertrauen. Das können wir als Lehrkräfte im Unterricht und Alltag den Kindern vorleben und mit ihnen einüben. Der Klassenrat mag für manche verstaubt sein- aber aktuell ist er für unsere Fünftklässler eine Platt- und Ausgangsform für viele erfolgreiche Projekte. Der pandemiebezogene geforderte Abstand zueinander sollte nicht mehr unseren Alltag bestimmen, in diesem gelebt werden. Offenheit und Toleranz sollten wichtige Bildungs- und Lernziele bleiben. Danke daher z.B. an alle Kollegen, welche sich nach pandemiebedingter Pause um das Aufleben von Schülerbegegnungen im Rahmen von Austauschprogrammen etc. nutzen. Durch einen sinnvollen und sinnstiftenden Einsatz der Digitalisierung im Unterricht können wir schließlich nicht nur fachlich den Schülerhorizont erweitern. Denn Digitalisierung heißt auch Vernetzung- menschlich und fachlich gleichermaßen. Das sollten wir als Lehrkräfte der jungen Generation aktiv und ihnen zugewandt vorleben.

    Wie denkt ihr darüber? Ich würde mich sehr über einen Austausch freuen!
    Valete!

    • herrmess

      Salve, magistra!
      Hab vielen Dank für diesen Mammutkommentar! Und natürlich für deine Einblicke, die mich sehr bewegt haben. Aber sie machen die Unzufriedenheit nachvollziehbar. Du hast recht: Demokratische Partizipation in der Schule kann schon mal einiges sinnvoll auf den Weg bringen! Ich frage mich nur, wie man die Erwachsenen wieder auf Spur bringt, die ihren Unmut auf diese Art äußern. Müssen wir nun einfach mit einem gehörigen Anteil Protestwählern einfach leben, die mit markigen Sprüchen und Hate Speech das politische Klima weiter vergiften? Oder brauchen wir einfach nur mal wieder ein bisschen positive Nachrichten, die uns wieder zur Besinnung bringt?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert