Alltag

Goldener Oktober

Mit beinahe 30 Grad geht der Oktober dieses Jahr los. Fast wie im August raschelt der Wind in den mittlerweile vertrockneten Blättern der Bäume vor dem Fenster und pustet eine gehörige Hitze in die Wohnung. Für die Sonnenanbeter ist das Wetter eine perfekte Gelegenheit, um bis in die Abendstunden draußen zu sitzen. Entsprechend voll sind die Cafés bis tief in den Abend. Erst ab 20 Uhr, wenn die Sonne vollends hinter den Häusern verschwindet und sich die Herbsttemperaturen unangenehm bemerkbar machen, wird es still in Münchens Straßen – vorausgesetzt, man hält sich nicht in der Nähe des Oktoberfestes auf, das dank des sonnenverwöhnten Septembers wohl einen neuen Besucherrekord aufstellt.

Oktoberrekord in München

Sieben Millionen Besucher waren es dieses Jahr – so die Statistik. Nach drei Jahren ausgefallener und verregneter Wiesn-Saisons sind die Leute ausgehungert und sehnen sich nach “genau so wie früher”. Und so fühlt es sich auch an: Lachende Gesichter, zum Bersten gefüllte Bierzelte, der Geruch von gerösteten Mandeln und Zuckerwatte in der Luft, das Lichterspektakel der Fahrgeschäfte bei Nacht. Die Blaskapellen auf der Oidn Wiesn und die nostalgischen Fahrgeschäfte von anno dazumal. Dann aber natürlich auch Betrunkene am berühmten Kotzhügel, sexuelle Übergriffe, maßlos überteuerte Gastronomie, riesige Lachen von Erbrochenen im Stadtgebiet, wohin man sieht, und ausgedünnte Reihen in den Klassen am Tag nach dem letzten Oktoberfest-Abend. Der berühmte Wiesn-Katarrh ist an den weiterführenden Schulen Münchens seit Jahren ein permanenter Unruheherd. Aber er gehört einfach dazu. Die Party ist vorbei.

Abendstimmung am Oktoberfest

Oktoberrekord in München

Entsprechend moderat waren daher wohl auch die Besuchervorhersagen für eine Demonstration gegen Rechts, die gleich am Tag nach dem Oktoberfest am Odeonsplatz stattfand. Prognostiziert waren ca. 4000 Besucher, als die Veranstalter das Event “Zammreißen” auf dem Max-Josephs-Platz in München angemeldet hatten. Sie lagen komplett daneben. In den acht Tagen, in denen die Veranstaltung angemeldet und geplant wurde, war das Interesse so groß, dass man größer denken musste und alles an den Odeonsplatz verlegt hat. Genau an dem Ort, an dem 1923 der Hitlerputsch in die Geschichtsbücher einging, fand gestern eine Demonstration gegen den spürbaren Rechtsruck im politischen Diskurs statt.  Das Lineup an Sprechbeiträgen und Bands war beeindruckend. Persönlichkeiten wie Charlotte Knobloch, Luise Kinseher, Prof. Ursula Münch von der Akademie für politische Bildung oder Claus von Wagner waren ebenso mit von der Partie wie die Spider Murphy Gang, LaBrassBanda oder Willy Astor. Super angenehm bei der Veranstaltung war der strenge Fokus auf das eigentliche Thema. Die Bands waren absichtlich zweitrangig und gut dosiert in die Sprechbeiträge eingereiht. Es war klar, dass hier keine Party gefeiert wird, oder alle nur da bleiben, um irgendeinen Hauptakt zu sehen. Tatsächlich tauchten die bekannten Bands angenehm verteilt über den Abend auf. Die Spider Murphy Gang oder LaBrassBanda, die einen aktuen Stromausfall auf der Bühne einfach gekonnt mit minutenlangen Bläsereinlagen überspielten, erschienen schon recht früh in der Veranstaltung. Und trotzdem blieben alle im Publikum bis zum Schluss. Und so lauschten wir Friedrich Ani und seinem Bayernhmynus mit einem dicken Kloß im Hals, ließen uns von der ehemaligen Bavaria Kienseher das bayerische Omm erklären, und begaben uns mit Maxi Schafroth und seinem JU Gesangsverein Miesbach auf die Suche nach der so häufig beschworenen liberalitas, humanitas et caritas Bavariae . Es kamen Künstler und Betroffene zu Wort, die täglichen rassistischen Angriffen ausgesetzt sind und von ihrem Alltag berichteten. Der Künstlerin Kokonelle hatte man beispielsweise auf dem Weg zur Veranstaltung gerade erst einen Teller hinterher geworfen. Da wird es dann auf einmal gespenstisch still im Publikum. Und das bei mehr als 35.000 Besuchern, die laut Polizeiangaben anwesend sind.

Der Abend endet dennoch mit einem guten Gefühl. Sich endlich aus dieser Lethargie befreien, mit der man die ständigen verbalen Entgleisungen fast nur noch gelähmt hinnimmt. Die Ohnmacht gezielt beim Kragen packen und schütteln. Etwas machen. Gefühlt das Richtige tun. Gemeinsam ein Zeichen setzen. Mache ich viel zu selten. Sollte ich definitiv öfter.

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