Sorry, Leute. Wir müssen reden. Und zwar über Politik. Ich weiß, das nervt. Aber es kann nicht sein, dass wir so in unseren Positionen verharren und uns deswegen irgendwann mal gegenseitig die Kauleiste polieren. Ich verstehe, dass man sich im politischen Diskurs an anderen Strömungen reibt. Das war schon immer so. Nur hat sich der Ton dabei für mich gefühlt komplett verändert. Und zwar nicht zum Guten.
Am Anfang war das Wort
Vielleicht liegt’s am fortschreitenden Alter, am Zeitgeist. Vielleicht ist es Einbildung. Aber ich bekomme zunehmend das Gefühl im falschen Film zu sitzen. Der Diskurs in der Politik ist für mich spürbar rauer geworden. Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Man muss sich ja nur umblicken und ein paar Jahre zurücksehen: Da saß in den USA auf einmal eine prollige Mixtur aus Misogynie, Narzissmus, Dekadenz und Fremdenfeinlichkeit im verantwortungsvollsten Job der Welt und schleuderte im Minutentakt krude und gelinde gesagt dumme Thesen unter die Massen. Ungefiltert, unzensiert und ohne auch nur einen Gedanken der Reflexion über die möglichen Folgen. So ging es mehrere Jahre lang – bis hin zu diesem skurrilen Debakel am Four Seasons Total Landscaping in Pennsylvania, das an Absurdität nicht mehr zu überbieten war. Man hatte das Gefühl, da krallen sich nicht einfach nur machthungrige Menschen am Thron fest. Sondern schaumschlagende Dummbeutel, die keinesfalls in ein solches Amt gehören. Nur leider scheint das seitdem etwas System zu haben.
Lernen von Großmäulern
Populismus funktioniert. Oder er funktioniert wieder. In einer immer komplexeren Welt, die uns aktuell mit einem Gros an Krisen zu überfordern droht, bietet er Simplizität. Man benennt einfach einen Schuldigen, auf den man den Frust abladen kann, und ab geht die Lucy. Pandemie? Von den Chinesen. Schlechte Wirtschaft? Liegt an der EU. Erstarken der Rechten? Liegt am Gendern. Klimawandel? Eine Lüge. Dazu kommt die Unterste-Schubladen-Rhetorik, die zusätzlich Feuer in ein ohnehin schon gefährliches Rezept bringt: Ausdrücke wie “Asyltourismus” kommen in Mode und suggerieren, dass Leute mal eben ihr Leben riskieren und ihre Heimat verlassen, nur um hier ein bisschen Spaß zu haben. Man spricht von einer schweigenden Mehrheit, die sich die Demokratie zurückholen soll – als ob diese Staatsform nur für einen eingeweihten Kreis der Bevölkerung gilt. Ich sehe Transparente auf Demos, auf denen offen aufgerufen wird, Politiker zu hängen. Merkel soll gehängt werden. Scholz auch. Die Grünen in ihrer Gänze auch – solange es noch Bäume gibt.
Diese Enttabuisierung und absichtliche Erosion und Verrohung der Sprache bekümmert mich als Sprachenlehrer ganz besonders. Das früher Undenkbare aussprechen. Ausprobieren, wie sehr es eskaliert. Und dann beim nächsten Mal nachlegen. Oder das Opfer spielen. Mausrutschen. Sich wie die Geschwister Scholl fühlen, weil man sich als Querdenkerin einer Impfung verweigert. “Volkszorn” heraufbeschwören und damit schön Vokabular bedienen, das aus ganz düsteren Truhen der deutschen Geschichte geborgen wurde – aber es dann natürlich ganz anders gemeint haben.
Verdruss
Am Anfang sind es nur Worte, die enthemmen. Aber wie lange bleibt das so? Braucht es wieder ein Zeichen wie die Ausgehetzt-Demos 2018, als die Leute gegen die permanenten verbalen Entgleisungen in der Politik in München auf die Straßen gegangen sind? Oder sind diese Verfehlungen so allgegenwärtig geworden, dass man abstumpft und sie geschehen lässt? Ich persönlich muss sagen, dass ich müde werde. Denn auch im Freundeskreis nehmen die hitzigen Debatten deutlich zu. Man diskutiert nicht, sondern lädt seine Meinung ab. Fällt dem anderen ins Wort. Wird laut, beleidigt. Es geht nicht mehr um eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Thema. Sondern wer seine Thesen am lautesten brüllt. Und schlimmstenfalls steht einer auf und verlässt die Gruppe. Manchmal für immer. Ist uns tatsächlich so passiert.
16 Comments
Julius
Ich kann jedes Wort nur unterschreiben.
Es geht seitens der Schreihälse nicht um Inhalt, nicht um Überzeugung, sondern nur noch um Häme, Desinformation, Diskreditierung, Entmenschlichung, Verachtung. Die Büchse der Pandora ist geöffnet und ich bin ratlos, wie man diese Unkommunikation wieder einfängt. Ich bin dessen zugegeben auch müde und ziehe mich zurück, damit bin ich nicht der Einzige, was für die Demokratie zusätzlich ungünstig ist.
Hauptschulblues
Danke für diesen Beitrag.
Als Mitglied der Lichterkette arbeite ich im Projekt “Klare Worte – aber respektvoll” mit, genau aus diesem Grund.
http://klare-worte.org/
herrmess
Dein Engagement ist echt bemerkenswert. Mir fehlt im Moment einfach die Kraft dazu
Hauptschulblues
Das ist was für die Rente, Matthias!
Nele Hansen
Auch denke fast jeden Tag, ob ich im falschen Film gelandet bin. Und mittlerweile grüßt auch täglich dazu das Murmeltier. Immer wieder gleiche Phrasen von Menschen, um dessen IQ man sich Sorgen machen muss, die aber leider das Sagen im Land haben. Die Gegenmeinungen sind da, aber scheinbar ist noch nicht genug Unsinn geschwätzt worden. Ich bin gespannt, wie lange sich die Leute nicht die Worte, sondern auch die Inhalte gefallen lassen.
herrmess
Bei uns hab es erst letzte Woche in Erding einen Eklat, bei dem sich ein paar ziemlich im Ton vergriffen haben. Um die ist es auf einmal sehr still geworden. Schade, dass man erst von allen Seiten schimpfen muss, bis es bei den entsprechenden Leuten ankommt
Matthias Steinbrink
Leider ein Gefühl, das ich zunehmend teile. Und leider auch das Empfinden, dass man gegen die immer lauteren, schrilleren, absurderen und wissenschaftsferneren „Meinungen“ nicht mehr ankommt. Ich kann nur hoffen, dass wenigstens bei einigen meiner Schüler*innen mein von mir geäußertes Unbehagen gegen diese Simplifizierung eine Reaktion hervorruft. Ich bin mir sicher, dass die Gruppe derjenigen, die ähnlich wie wir denken und diese Lautschreierei ablehnen, größer ist, aber eben leider auch leiser. Deswegen arbeite ich täglich daran, die stillen, besonnenen, klugen Stimmen stärker zu machen, sie zum Laut-sein zu ermuntern. In diesem Sinne haben wir heute Mottotag Pride Month an der Schule. 🏳️🌈
herrmess
Freut mich, dass ihr als Schule an dem Thema so dran seid! Privat sollte man aber auch ein bisschen schauen, dass man nicht in die innere Emigration reinrutscht. Ich kann das aber sehr gut verstehen. Vieles ist derzeit einfach zu laut…
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Herr Rau
Mein Kommentar ist ausführlich geworden; zu diesem Eintrag und vor allem zu Mikes Replik darauf hier: https://www.herr-rau.de/wordpress/2023/06/politisches-aber-eigentlich-doch-nur-wie-man-ueber-politik-redet.htm Vielen Dank für den Schreibanlass, auch wenn ich ungern geschrieben habe.
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