Das Wort Digitalisierung und digitale Bildung wird uns Lehrern in letzter Zeit nur noch so um die Ohren gehauen. Und das nicht nur, weil unsereiner Twitterat ist. Auch in den traditionellen Medien wird regelmäßig auf das Thema Bezug genommen. Sogenannte Fachleute postulieren, wie digitale Bildung auszusehen habe. Ich sehe Interviews mit Managern, Politikern in ihren Endfünfzigern, die noch vor ein paar Jahren von der Gefährlichkeit von neuen Medien lamentiert haben. Alles scheint vergessen. Aber wie soll man es nun machen, diese Digitalisierung? Was braucht eine Schule dafür? Welches Equipment? Welche Medien? Welche Software? Was für Lehrpersonal? Das weiß keiner so genau. Deswegen sollen das die Lehrer (wieder) einfach mal selbst rausfinden. Und so wurden die bayerischen Schulen beauftragt, bis Ende des nächsten Schuljahres ein so genanntes Medienkonzept zu erstellen, in dem festgehalten werden soll, welche Medien im Unterricht genutzt werden (sollen), wie sie genutzt werden (sollen), wann sie genutzt werden (sollen), warum sie genutzt werden (sollen). Das ist per se wichtig und richtig. Unternehmen geben für eine sinnvolle digitale Strategie Unmengen an Geld für externe IT-Teams aus, um sich fit für die Zukunft zu machen. Nur haben wir die nicht. Weder die Unmengen an Geld noch externe IT-Teams. Daher wird an jeder Schule ein Team aus Lehrkräften bestimmt, das diese freudige Arbeit umsetzen darf – natürlich zum regulären Tagesgeschäft oben drauf. Zu den Mitstreitern im neu beschworenen Arbeitskreis finden sich eine Person aus dem Direktorat, der Systembetreuer und aus dem Kollegium ein medienaffiner Lehrer. Ihr ahnt es schon: Letzteres – sono io.
Um die Lehrerschaft bei dieser Mammutaufgabe nicht komplett im Regen stehen zu lassen, werden wir regelmäßig zu Impulsfortbildungen geschickt, die uns mit der nötigen Theorie versorgen sollen. Wie wir sie am Ende umsetzen, bleibt uns überlassen. Und so pilgern wir an einem sonnigen Wintertag nach der Schule zu einer dreistündigen Fortbildung am Nachmittag an einem Münchner Vorortgymnasium, wo uns von Mitarbeitern des Ministeriums und medienpädagogisch-informationstechnischen Beratern – kurz MiBs – erklärt wird, was uns erwartet. Die Einladung ergeht – vorbildlich – über Mebis. Weniger cool: An der Schule, an der alle zusammenkommen sollen, um über neue Medien und Digitalisierung zu reden, existierten weder dafür nutzbare Endgeräte oder WLan. Wir werden im Vorhinein dazu aufgeordert ein Konvolut aus knapp 200 Seiten als ZIP-Datei herunterzuladen und mitzubringen. Wer kein Tablet nutzen kann, druckt es sich ganz einfach aus. Und tatsächlich: In den Reihen sieht man vereinzelt Leute, die diesen Packen auch wirklich in Papierform vor sich auf dem Schoß haben. Leute, die wohlgemerkt ausgesucht wurden, um neue Wege zu gehen. Neue Pfade zu betreten. Man will, aber auch wieder so richtig nicht.
Die Fortbildung selbst bekommt schnell ein bisschen Ohrfeigencharakter. Zwar sind die Impulsvorträge, die wir bekommen, recht informativ und handeln von der Wichtigkeit der 4Ks und ihrer baldigen Verankerung im Lehrplan. Aber vieles bleibt einfach zu vage. Welche Geräte dürfen wir nutzen? Was ist mit Datenschutz, was geht da, was geht da nicht? Was ist mit BYOD, das Technik unkompliziert in die Klassenzimmer holt? Nichts. Stattdessen Statistiker darüber, bis wann wir welchen Schritt abgearbeitet haben müssen. Überhaupt fällt “Sie müssen” in diesen Stunden auffällig häufig. Und “Sie dürfen nicht”, gepaart mit “Es wird viel Arbeit sein”, “Sie werden gegen Windmühlen kämpfen” und “Wenn Sie für die digitale Arbeit und technische Geräte zusätzliche Mittel erwarten, die Stadt München hat dafür kein Geld.” Klar, dass sich im Publikum Widerstand regt. Die Leute sind mit einem gewissen Optimismus angetreten und schon nach einem Drittel der Zeit einfach nur genervt. Kein “schön, dass Sie sich bereit erklären” oder “Ihre Arbeit wird wichtig sein, um die Schule auf die Zukunft vorzubereiten.” Nichts.
Die ersten Publikumsfragen werden gestellt. Der erste Widerstand. Für einige klingt es nach unbezahlter Mehrarbeit, was da zu machen sei, andere finden es geradezu paradox, über Monate ihre Schule auf einen neuen, digitalen Weg zu bringen, wenn für den dazu nötigen Ausbau angeblich kein Geld da ist. Die Referenten nehmen die Kritik wohlwollend auf und kontern mit: “Sie sind Beamte. Sie müssen das jetzt halt machen.” Punkt.
Um die Stimmung zu lockern und den Leuten die Möglichkeit zur Kollaboration und Praxis zu ermöglichen, werden die Leute in guter alter Fishbowl-Manier in verschiedene Räume verteilt, in denen zu ausgewählten Fragen Infomaterial zu finden ist, das zum fachlichen Austausch führen (Wir diskutieren über Chancen und Probleme digitaler Technik im Unterricht) soll. Die Ergebnisse der Diskussionen soll man digital auf einem Padlet festhalten, das per QR-Code zugänglich ist. Aber auch hier macht uns die Praxis den Garaus. Denn der Neubau mit seinen dicken Wänden erlaubt keinerlei mobile Daten. Unsere Smartphones kommen nichts ins Netz. Nichts mit Padlet. Stattdessen werden wir gebeten, unsere Ergebnisse schriftlich festzuhalten und zuhause am PC in Padlet einzutragen. Doppelte Arbeit, die man ja eigentlich NICHT haben will. Die Szenen sind geradezu symbolisch für das Thema Digitalisierung, wie es im Moment in den Schulen gehandhabt wird: Irgendwie will man ja was auf den Weg bringen. Aber man kann nicht. Weil man selber noch nicht dahintergestiegen ist. Oder die Technik einfach nicht will. Oder gar nicht will. Oder kein Geld da ist. Und es ist so ermüdend…
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Über "Hand aufs Herz"
Wenn es bei den #edupnx mal zu meinem “Hand aufs Herz”-Thema kommen sollte – so nennen wir Aspekte im Schulalltag, mit denen wir bei aller Professionalität nur suboptimal zurecht kommen – dann hätte mein Versagen einen Namen: Meine diesjährige Abiturklasse. Wir passen irgendwie nicht zusammen. Die versprengten Kursteilnehmer sind ein Sammelsurium an Charakteren, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Ein kleiner Teil ist immer da und arbeitet so, wie ich es von kommenden Abiturienten erwarten würde. Der Großteil aber bringt mich regelmäßig auf die Palme. Angefangen bei den hohen Fehltagen und die Erwartungshaltung, dass ich ihnen bei Rückkehr aus dem vermeintlichen Krankenstand noch einmal alles auf dem Silbertablett durchkaue, hin zu katastrophalen, proletenhaften Umgangsformen bis zur nicht vorhandenen Hausaufgabenmoral kann ich mit knapp 90% dieses Kurses einfach nichts anfangen. Umgekehrt erwarten sie von mir ein riesiges Methodenfeuerwerk, in dem ich sämtliche Register ziehen soll. Das funktioniert in der Regel ganz gut, aber wehe ich nehme zur Abwechslung mal das reguläre Schulbuch in die Hand. Dann wird lamentiert: Zu langweilig, zu alt, zu irrelevant. Dann vergreift sich einer im Ton, darauf vergreife ich mich im Ton, lasse mich auf die emotionale Ebene ein, tobe ein paar Minuten herum und schmeiße, wenn mir dann noch jemand blöd kommt, ihn im schlimmsten Fall aus dem Unterricht. Bei Abfragen und anderer Notengebung eskaliert es auch regelmäßig: Sämtliche Leistungsnachweis sind für die meisten grundsätzlich ein Angriff auf die Menschenwürde. Wenn ich aus meinem Rudel bestimmte Schüler ausfragen will, geht es gleich los mit “Sie wollen mir nur eine schlechte Note reinwürgen” oder “ich war aber gestern lange beim Zahnarzt” oder – kein Witz – “Sie dürfen mich nicht abfragen. Ich war gestern saufen.” (O-Ton). Aber ich ziehe mein Programm durch. Ich mache es aber schon lange nur noch für die 10% des Kurses. Der Rest ist mir leider Gottes egal geworden und fällt nur durch Abwesenheit oder Herumgestoffel auf. So auch letzte Woche, als ich die Schülern explizit noch einmal darauf hingewiesen habe, dass ich zur aktuellen Grammatik und dem Wortschatz noch einen Test schreiben würde.
One Word: Ausnahmezustand. Unfair! (so kurz vor Notenschluss) Unmenschlich! (weil ich einen Test ansage, den ich auch einfach ohne jegliche Ankündigung steigen lassen dürfte) Die ganze Schublade an pubertärem Blabla wurde mir von meiner Stoffelfraktion entgegen gebracht. So schwer es war, ich hab es ignoriert, weitergemacht, das Gemuffel verstummte.
Es kommt die nächste Stunde. Die Stunde vor dem Test, in der ich nochmal üben wollte. Wortschatz, Grammatik, Übungen, um die Leute nochmal fit zu machen. Nur ist kaum jemand da. Von den 13 Kursteilnehmern sind 3 da. Alle anderen fehlen. Aus Angst, heute könnte der besagte Test stattfinden, der ihnen die Note versaut. Im ersten Moment bin ich stinksauer, aber das an den Leuten auslassen, die sich loyal in den Kurs gesetzt haben, bringt ja auch nichts. Also entscheide ich mich für eine Retourkutsche. In der nächsten Stunde. Im Test.
Den kommenden Montag sitzen sie wieder alle da. In voller Besetzung. Und mit süffisantem Grinsen im Gesicht. Sie wissen, dass sie letzte Stunde gefehlt haben und den Test nicht mitschreiben müssen, wenn ich ihn stattfinden lasse (ist in Bayern in der Regel so). Ganz im Gegensatz zu den drei armen Hascherln, die ran müssen. Und die protestieren natürlich im ersten Augenblick. Als die einzigen, die immer in der ersten Reihe sitzen, werden sie jetzt auch noch mit einem Test abgewatscht und gestraft. Glauben Sie. Bis sie den Test sehen. Den habe ich nämlich so billig wie nur möglich gehalten. Der Cloze-Test im Wortschatzteil gibt die Lösung geradezu auf dem Präsentierteller vor, weil ich exakt immer nur einen Buchstaben ausgelassen habe. Items wie cooperatio_ oder glob_lisation sind quasi mit verbundenen Augen zu erraten. Auch die Grammatik ist auf absolut basalem Niveau gehalten und geht nicht über den Erwartungshorizont der achten Klasse hinaus. Das merken meine drei Leutchen erst mit der Zeit. Und lächeln breit vor sich hin. Der Test ist für meine Treuesten ein absolutes Geschenk. Hier keine volle Punktzahl abzusahnen ist quasi unmöglich. Den Blaumachern hingegen ist das süffisante Grinsen komplett aus dem Gesicht gewichen. Sie sind mir auf den Leim gegangen. Und das können sie nicht ertragen. Schon während des Tests regt sich Widerstand. Ob sie die Prüfung denn nicht trotzdem zählen lassen können, wollen sie wissen. Ich setze mein größtes Engelsgesicht auf und meine nur: “Das geht leider nicht. Ihr wart ja letzte Stunde krank und ich kann nicht verantworten, dass aufgrund eures Gesundheitszustandes eure Leistungen in Mitleidenschaft gezogen werden.” Die Stoffelfraktion gibt sich zähneknirschend geschlagen und vergräbt sich wieder in die Prüfung, die sie leichtfertig verspielt haben. Nur der Anführer hält Blickkontakt zu mir und nickt mir anerkennend zu: “Well played, sir.”
Und es ward Ruhe im Karton.Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.0 -
Von blankem Horror
Es dürfte irgendwann um 1997 gewesen sein. So richtig kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich dürfte damals in der Oberstufe gewesen sein. Ich spazierte damals vergnügt zur dritten Stunde in die Schule. Die ersten beiden Stunden waren ausgefallen, und mein Schultag würde so mit dem Leistungskurs Latein beginnen. Als ich den Raum betrete, scheint alles wie immer. Ich sehe die ganzen Leute vor mir, in eben der Sitzordnung, wie sie für unseren Kurs üblich war. Alle waren schon eingetrudelt und in aufgeregte Gespräche verwickelt. Mein bester Freund redete mit hochrotem Kopf auf seinen Vordermann ein, griff sich regelmäßig in die Haare, kritzelte auf einem Blatt Papier herum, radierte, murmelte. Ich nehme rechts von ihm Platz und entziffere aus dem Gekritzel mathematische Formeln, allem Anschein nach etwas zum Thema Kurvendiskussion. Zu Beginn kann ich mir einen amüsierten Kommentar nicht verkneifen. Ich ernte aber nur entgeisterte Blicke. “Unsere Matheklausur gerade war dermaßen schwer, ich kann da von Glück reden, wenn es noch vier Punkte werden”, zischt mir mein Freund entgegen, bevor er sich wieder seinem Vordermann zuwendet und hektisch Ergebnisse vergleicht. Im ersten Moment registriere ich das noch gelassen, bis ich von meinem Freund zugeraunt bekomme “Ich hoffe, eure Klausur war einfacher.”
Unsere Klausur? Ich stutze. Ich habe heute keine Matheklausur geschrieben. Ich bin ja gerade erst in die Schule gekommen. Zur dritten Stunde. Die ersten beiden Stunden waren doch ausgefallen… oder? Ich werde etwas unruhig und schaue mich im Klassenraum nach Leuten um, die in meinem Mathekurs sitzen, um mich dessen zu vergewissern. Aber ich bin hier der einzige. Die nächsten 45 Minuten der Lateinstunde nehme ich nur physisch wahr. Im Kopf drehen sich Fragen über Fragen. Oder eher gesagt nur eine einzige: Habe ich etwa gerade eine Matheklausur verschlafen? Nein, das kann nicht sein, sowas passiert mir nicht. Die Termine sind Wochen vorher bekannt gegeben worden. Ich hätte mich hundertprozentig darauf vorbereitet. Andererseits ist es bei uns in der Oberstufe üblich, dass die Mathekurse am selben Tag parallel ihre Klausuren schreiben. Und neben mir wird gerade heftigst über eine eben geschriebene Mathearbeit diskutiert. Ich werde zunehmend unruhiger, rutsche auf meinem Stuhl hin und her und starre mit leerem Blick auf die Uhr, auf dass sie die 45 Minuten schneller vergehen lasse. Ich muss jemanden aus meinem Mathekurs finden und mir Klarheit verschaffen.
Als der Gong ertönt, bin ich der erste, der wie von der Tarantel gestochen aufspringt und zur Klassenzimmertür hechtet. Im Gang schieben sich bereits Massen von Leuten durch die Schule. Unterstüfler, Mittelstüfler, ein paar Lehrer – und irgendwo mittendrin Manfred. Wir nannten ihn aufgrund seiner körperlichen Statur schlicht und ergreifend “Bäpf”. Er sitzt in meinem Mathekurs zwei Reihen hinter mir und ist für die nächsten Sekunden der Mann, der diesen Tag in eine Katastrophe oder riesige Erleichterung verwandeln kann. “Bitte sag mir nicht, dass wir heute eine Matheklausur geschrieben haben”, keuche ich ihm entgegen, als ich mich durch die Schülermassen gewühlt habe und endlich bei ihm ankomme. Seinem Gesichtsausdruck kann ich die Antwort schon ablesen. “Sag mal, wo bist du denn gewesen? Wir haben alle auf dich gewartet! Hast du die Verlegung des Termins nicht mitbekommen” fragt Bäpf ungläubig. “Das wissen wir doch schon seit der ersten Woche des Schuljahres!”
Und da merke ich, wie es mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Da haben wir den Salat. Ich habe wirklich eine Klausur verpennt. Ich bin in der Kollegstufe eines Gymnasiums und habe eine der wichtigsten Prüfungen auf dem Weg zum Abitur schlichtweg vergessen. Unentschuldigt gefehlt am Tag einer angekündigten Prüfung bedeutet bei uns in Bayern automatisch 0 Punkte. Note 6. Damit setze ich meinen guten Abischnitt aufs Spiel. Nein. Falsch. Damit IST der gute Abischnitt aufs Spiel gesetzt. Die Sechs habe ich sicher. Mit pochendem Herzen und dem wohl tomatigsten Gesichtsrot, das es jemals an meiner Schule gegeben hat, begebe ich mich in das nächste Klassenzimmer, gehe im Kopf durch, wie ich das meinem Mathelehrer erklären soll, der ja ohnehin als ein harter Hund gilt. Oder meinen Eltern. Und vor allem mir selbst. So eine Kopflosigkeit kenne ich von mir überhaupt nicht. Wie konnte das passieren, dass mir diese Terminverlegung durch die Lappen gegangen ist? Ich bin so in Gedanken verloren, dass ich gar nicht registriere, in was für einem Unterricht ich überhaupt sitze. Ich suche im Raum nach dem Lehrer des Kurses, um zu sehen, ob ich nicht schon wieder etwas verschusselt habe und blicke Richtung des Lehrerpultes. Dort sitzt aber nicht einer meiner Lehrer. Dort sitzt einer meiner jetzigen Kollegen.
Und dann wache ich auf. Jedes Mal. An genau dieser Stelle. Alle drei bis vier Monate kommt dieser Traum. Ich durchlebe jedes Mal die gesamte Achterbahn der Gefühle. Die Panik, als ich merke, was passiert ist, die Unruhe, meine Selbstgeißelungen. Und letztlich die endlose Erleichterung, wenn ich merke, dass ich im Jetzt des Jahres 2017 aufgewacht bin – mit einem Abi und zwei Staatsexamina in der Tasche. Warum es jedes Mal die Mathematik ist, die mir diesen Horror einbringt, kann ich nicht sagen. Ich war in Mathe immer solide. Nicht brilliant, aber passabel. Und trotzdem hat sich da bei mir irgendwie ein kleines Trauma festgesetzt, das mich viermal im Jahr um den Schlaf bringt.
Verrückt, wie sich Schule auch noch nach Jahren bei uns festsetzen und wüten kann. Ich hoffe, dass keiner meiner Schüler wegen mir so etwas durchleben muss…Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.0 -
Von einem Weihnachtswunder
In diesen Wochen kommt nicht nur für die Schüler alles zusammen. Auch wir Lehrer sind gut am Rödeln. Neben dem Unterricht sind wir mit Konferenzen beschäftigt, in denen wir über die Fälle diskutieren, die auf Probe vorgerückt sind. Mehrere AKs wollen kurz vor den Ferien zu ein paar neuen Impulsen rufen. Nebenher geht der Nikolaus um, das Weihnachtskonzert wird nicht nur besucht, sondern auch geprobt. Die Sprechstunden sind dick gefüllt, weil die Eltern den Kindern ein paar gute Vorsätze ins Jahr 2017 mitgeben wollen. Die Kinder werden ausgelassener, je näher der 23.12. rückt. Und mittendrin: Korrekturen. Stapelweise Korrekturen von Exen, Schulaufgaben, Klausuren, Mini-Tests. Der Schreibtisch quillt über vor Papier – in diesem Jahr mein Fluch.
Es ist Freitag. Vor mir schreibt gerade die zwölfte Klasse in einem engen, ungemütlichen Raum ihre Klausur. Auf dem Tisch vor mir ein Haufen Papiere, den ich schon den ganzen Tag mit mir herumtrage: Zusätzliches Papier für die Oberstüfler, übrig gebliebene Klausurenangaben, ein Stapel Klausuren aus der Elften, die ich in der Freistunde durcharbeiten möchte, meine Schulaufgabe der sechsten Klasse, die ich abgeben muss, und eine Nachholschulaufgabe, die ich gerade in der Pause zwischen Tür und Pausenkaffee durchprügeln konnte. Die Note des kleinen Tobi ist nicht wirklich überragend. Ich möchte ihm aber das Wochenende nicht mit der Zensur versauen und habe mich in der Frühe entschlossen, ihm sein magnum opus erst am Montag rauszugeben, damit er von dem 2. Advent etwas hat.
Eine einsam herumfliegende Schulaufgabe ist eine heikle Geschichte. Wie schnell ist sie in einem solchen Blätterwust verloren und auf ewig verschollen. Zum Glück hab ich für diesen Zweck einen eigenen Ordner, in dem ich Schulaufgaben und Angaben sammle. Also rein damit und das Ende der Oberstufenklausur abgewartet. Nach 90 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Arbeiten werden eingesammelt und in den berühmten grünen Mantelbogen gelegt. Darauf meine Prüfungen der sechsten Klasse und die Elfklassklausuren – mein Wochenende ist gerettet. Endlich keine Langeweile mehr. Die übrig gebliebenen Klausurenangaben lagere ich in eine blaue Stofftüte aus und verstaue sie im Auto, da ich sie nicht so schnell brauchen werde, und brause nach Hause in ein arbeitsreiches Wochenende.
Fast Forward Sonntag Abend. Ich bin mit allem fertig, packe gerade meine Sachen für den Montag zusammen. Achja, noch schnell die Schulaufgabe vom kleinen Tobi raussuchen, die ich ihm ja erst nach dem Wochenende rausgeben wollte. Also Ordner rausgeholt, Register für abgegebene Schulaufgaben und Exen aufgemacht, die Schulaufgabe gesucht – und ich stutze: Die Arbeit ist nicht da. Ich denke mir erst nichts und gehe den Stapel an deponierten Prüfungen noch einmal durch. Wieder nichts. Etwas unruhig schaue ich die restlichen Register des Ordners durch und stoße auf dieselbe gähnende Leere. Tobis Schulaufgabe ist weg. Kein Problem, denke ich mir. Du hast sie bestimmt in der Schule auf deinem Platz zusammen mit den zwei durchkorrigierten Schulaufgabenstapeln abgelegt, die du nicht mehr nach Hause nehmen wolltest. Also gehe ich mit der Gewissheit zu Bett, dass sich das gute Stück am nächsten Tag vor meiner Nase im Lehrerzimmer auftauchen wird. Licht aus.
Montag. Sie fehlt. Tobis Schulaufgabe findet sich weder im Prüfungsstapel der sechsten, noch der fünften Klasse. Ich schaue den restlichen Stapel an Papieren auf meinem Arbeitsplatz im Lehrerzimmer durch. Dienstanweisungen, Folien, Elternbriefe, Entschuldigungen von Eltern, Arbeitsblätter der Q11, ein Referat aus der Q12, eine Klassenliste meiner Schützlinge. Aber keine Schulaufgabe von Tobi. Nirgendwo. Ich kratze mir verwundert meinen Kopf. Vielleicht hab ich sie nach der Klausur am Freitag in mein Fach reingelegt? Nachprüfen kann ich das allerdings erst in der Pause, denn die erste Stunde beginnt. Die fünfte Klasse. Tobi wartet bestimmt schon auf seine Schulaufgabe. Ich werde ihn vorerst vertrösten müssen.
Deutlich beunruhigt stürze ich in der Pause an mein Fach – nur um wieder enttäuscht zu werden. Das Ding ist nicht da. Verflucht! Ein paar Kollegen von mir bemerken meine Unruhe und fragen nach, was los sei. Sie beruhigen mich. Sowas sei jedem in seinen zig Dienstjahren einmal passiert, und jedes Mal habe sich die verlegte Prüfung dann gefunden, wenn man eigentlich schon aufgeben wollte. Ich nicke etwas erleichtert und denke sofort wieder an meinen Ordner, in dem ich die Schulaufgabe von Tobi am Freitag während der Oberstufenschulaufgabe abgelegt hatte. Ein erneutes Durchsuchen wird das gute Stück bestimmt wieder zutage fördern. Denke ich. Noch.
Aber Fehlanzeige. Sie bleibt verloren. Ich gehe zum Radikalprogramm über und ziehe jeden Korrekturstapel aus meinem Spind, den ich seit diesem Jahr schon fertiggestellt und archiviert habe: Jahrgangsstufentests, Stegreifaufgaben, Grammatiktests, Wortschatzprüfungen, Schulaufgaben alles. 25 (!!!) Klassensätze habe ich seit September korrigiert. Und jeden einzelnen – insgesamt knapp 750 Arbeiten – gehe ich gesondert durch. Falte mehrseitige Angaben und Schülerbögen auseinander, nur um die Schulaufgabe des kleinen Tobi zu finden. Ich verliere dadurch fast 2,5 Zeitstunden, literweise Stresshormone und bestimmt auch den einen oder anderen Nerv. Vor allem als klar wird, dass auch die letzte Schülerarbeit nicht das bereithält, was ich suche. Alles ist korrekt einsortiert und abgeheftet. Nur diese Schulaufgabe fehlt.
Am Abend gehe ich nochmal sämtliche Schubladen meines Arbeitszimmers durch, die mit einem derartigen Dokument in Berührung gekommen sein sollten. Meine Kollegen, die in der Nähe meines Arbeitsplatzes im Lehrerzimmer sitzen, habe ich telefonisch informiert, ihre Unterlagen nach Tobis Schulaufgabe zu durchforsten, vielleicht haben sie das Ding ja versehentlich eingesteckt. Mir selber gehen langsam die Ideen nach weiteren Verstecken aus. In meiner Verzweiflung leere ich sogar meinen Papierkorb im Arbeitszimmer aus. Schätzungsweise 70 Zettel, Fetzen, Post-Its und Briefumschläge flattern in alle Himmelsrichtungen über den Boden. Hektisch durchwühle ich das Chaos nach allem, was nach Korrekturen aussieht. Aber nichts. Überhaupt nichts. Nirgendwo. Tobis Schulaufgabe. Sie ist weg. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben ganz offensichtlich eine Schulaufgabe verloren.
Was blüht mir jetzt?
Ich werde zum Chef gehen und beichten müssen. Ich werde der Fachschaftsleitung Bescheid geben müssen. Ich werde bei Tobis Eltern anrufen und ihnen den Fall schildern müssen. Wie absolut peinlich. Der Anruf wird mein erstes berufliches Schuldeingeständnis. Eine Bankrotterklärung an mein Ordnungssystem, das seit Jahren so wunderbar funktioniert hat und jetzt in Scherben liegt. Und ich muss dem kleinen Tobi erklären, dass er vor Weihnachten nochmal eine Schulaufgabe schreiben muss. Als ob er unmittelbar vor den Ferien nicht schon genug Stress hätte. Aber es muss wohl sein. Ich habe an allen Stellen gesucht, an die ich denken konnte. Ich bin verzweifelt. Und gestehe die Niederlage ein. Merda.
Ich werde heute sehr schlecht schlafen. Meine gesamten Gedanken werden um diese vermaledeite Schulaufgabe kreisen. Ich weiß es. So bin ich einfach.
Kurz vor dem Zubettgehen gehe ich nochmal zur Wohnungstür um zu sehen, ob sie auch verschlossen ist (was wäre der Lehrer ohne seine Spleens). Beim Herübertrotten zum Schloss fallen meine Augen rein zufällig über die Schlüsselschale, in denen alle Schloss- und Schließmöglichkeiten meiner Habseligkeiten zu finden sind – und bleiben am Autoschlüssel hängen. War ich nicht vor einer knappen Woche mit dem Auto in die Schule gefahren? Eventuell sogar letzten Freitag, als ich Tobis Schulaufgabe zum letzten Mal gesehen hatte? Hatte ich schon dort nachgesehen? Ich reiße die Tür auf und jage im Schlafdress und mit klopfenden Herzen die Treppe zur Tiefgarage hinunter. Es ist fast Mitternacht, im Treppenhaus herrscht Eiseskälte, aber das ist mir egal. Ich bin getrieben von banger Hoffnung, hier auf der letzten heißen Spur zu sein, die mir noch bleibt. Ich reiße die Hecktür meines Autos auf. Im fahlen Licht der jetzt erst anflackernden Neonröhren erkenne ich sie – eine blaue Stofftüte, in die die Angaben der Oberstufenklausur gestopft waren. Und ganz oben auf dem Stapel: Tobis Schulaufgabe. Ich will vor Erleichterung heulen, bin aber einfach zu fertig mit den Nerven, um auch nur eine Träne hervorzubringen.
Heute Nacht werde ich wie ein Baby schlafen.Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.0 -
Schulaufgabenyoga
Für einige meiner Kollegen ist das Abhalten von Schulaufgaben eine Wohltat in einem hektischen Schultag. 45, bestenfalls sogar 90 Minuten kann man die Schüler ungestört arbeiten lassen, während man selber ein bisschen zur Ruhe kommt und durchschnauft. Ich hasse diese Zeiten. Ich würde so gerne in dieser Zeit etwas Produktives machen, vielleicht etwas wegarbeiten, aber das kann man sich vollkommen abschminken. Immerhin hockt man vor 30 Herren und Damen, von denen einige nur allzu gerne einen Blick zum Nachbarn riskieren möchten. Hilft also nix, man muss mit Argusaugen über seine Schäfchen wachen. Oder zumindest so tun. Denn früher oder später packt mich dann doch der Lagerkoller und meine Professionalität verabschiedet sich ins Wochenende. Hier mal eine beispielhafte Aufstellung von Aktivitäten während 90 Minuten Oberstufenklausur, die irgendwann eskalieren:
- Schülerbögen austeilen und beschriften lassen
- Angabe der Schulaufgabe ausgeben
- Mít Schülern eventuelle Fragen klären
- um absolute Ruhe bitten
- Arbeitszeit verkünden
- Viel Erfolg wünschen
- Hinsetzen
- Schülerschaft scannen
- aus dem Fenster blicken
- Schülerschaft scannen
- Weihnachtsgeschenke überdenken
- Schülerschaft scannen
- Nachmittag mit Korrekturen im Kopf vorskizzieren
- Laut aufseufzen
- Schülerschaft scannen
- Auf und ab gehen
- Schülerschaft scannen
- Schüler 1 wegen Spickversuchs ermahnen
- Der Schnuffelnase in der 3. Reihe mit väterlich-sorgenvollem Blick ein Taschentuch reichen
- Restzeit durchsagen
- Auf und ab gehen
- Schülerin 2 wegen Spickversuchs ermahnen
- Hinsetzen
- Schülerschaft scannen
- Schüler 3 wegen raschelnden Pausenbrotpapiers genervt mit den Augen fixieren
- Blickduell mit Schüler 3 initiieren
- Blickduell gewinnen: Schüler 3 packt mit hängenden Schultern sein Essen weg
- Schülerschaft scannen
- Aufseufzen
- Gelangweilt die Tafel nass wischen
- Hinsetzen
- Aufstehen
- Schülerschaft scannen
- Schüler 4 von der Seite anreden, weil er absichtlich seinen Nachbarn stört und ihm ständig mit der Hand über das Gesicht fährt
- Zusatzblätter austeilen
- Restblätter durchzählen
- Schüler 4 erneut blöd anreden, weil er den Nachbarn stört
- Blickduell mit Schüler 4 beginnen
- Blickduell gewinnen
- Schülerschaft scannen
- Arbeitszeit durchgeben
- Durch die Klasse gehen
- Schüler 4 durch das Werfen des Tafelschwammes von erneutem Störversuch abhalten
- Blickduell mit Schüler 4 gewinnen
- Zur Tafel drehen und merken, wie Schüler 4 wieder ärgern möchte.
- Hinsetzen
- Racheplan an Schüler 4 planen
- Aufstehen
- Schüler 4 mit dem Klassenbesen traktieren
- Schüler 4 mit dem Klassenbesen über die Angabe wischen
- Zwischenfrage beantworten
- Arbeitszeit durchgeben
- Schülerschaft scannen
- Aufstehen
- Zusatzblätter austeilen
- Schüler 4 mit dem Klassenbesen über die Kleidung streichen
- Arbeitszeit durchgeben
- Schüler 4 wortlos das Lexikon zuklappen, damit er nicht mehr nachschlagen kann.
- Arbeitszeit durchgeben
- Neben Schüler 4 wortlos stehen bleiben und ihn durchdringend anblicken.
- Letzte Arbeitsminuten durchgeben
- Blickduell mit Schüler 4 beginnen und gewinnen
- Arbeiten einsammeln
- Schüler 4 die Arbeit als erstes aus den Fingern reißen
- Klasse entlassen
Disclaimer: Im Verlauf der Schulaufgabe ist kein Schüler 4 zu Schaden gekommen. Ich kenne ihn seit der fünften Klasse und er ist genau wie in der Oberstufe das, was man früher einen kleinen Unhold nannte. Eine solche Behandlung wird ihn nicht von der Top-Leistung abbringen, die er trotz seiner Streiche über die Jahre gebracht hat.
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Über meine Lehrprobe
Früher oder später erwischt jeden von uns Lehrern dieser seltsame Moment – Der Tag, an dem uns zum ersten Mal unsere alten Lehrproben in die Hände fallen – oft aus Zufall, noch öfter tatsächlich, weil viele dieser Stunden für den Unterricht immer noch gut nutzbar sind. Irgendwie sind uns diese Lehrproben noch immer wunderbar vertraut und gleichzeitig so fremd. Kein Wunder, immerhin hat man damals im Referendariat drei Wochen auf diese eine Stunde hingearbeitet, das Material stundenlang korrekturgelesen und mit allem, was man damals drauf hatte, verschönert. Andererseits: Wieviel Zeit ist mittlerweile ins Land gezogen, wie sehr hat sich seitdem die eigene Perspektive geändert! Viele der Materialien und Arbeitsaufträge sind zwar kunstvoll in Szene gesetzt, haben aber stets etwas künstlich Überbordendes, das sich an Maßstäben eines Vollzeitlehrers gemessen völlig überzogen anfühlt. Meine zweite Lehrprobe war in dieser Hinsicht der absolute Overkill.
Mein Thema lautete damals schlicht und ergreifend “Kreative Texterschließung im Englischunterricht der sechsten Klasse”. Dreh- und Ausgangspunkt dieser Stunde war ein Lektionstext über den Schulalltag eines kleinen kenianischen Jungen im damaligen Englischbuch. Um den einigermaßen in Szene zu setzen, zog ich alle Register, die mir damals zur Verfügung standen. Zur Hinführung an den Text erfand ich für meine 12-jährigen Schüler einen riesigen narrativen Rahmen, den ich über die gesamte Woche vorher kunstvoll über die vorangehenden Stunden gespannt hatte. Ich erfand einen Schüleraustausch zwischen der Schule unserer Englischbuch-Klasse und der fiktiven Schule aus Kenia, der in der Lehrprobenstunde gipfeln sollte. Ich erfand eine Rede des kenianischen Schuldirektors, der extra unsere Schulbuchklasse besuchte, sprach sie für eine Listening Comprehension-Aufgabe mit einem Mikrofon ein und verfremdete mit Plug-ins meine Stimme so, dass mich keines der Kinder erkannte – komplett mit Hintergrundgeräuschen, klatschendem Publikum und eingespielter Blaskapelle.Aus der Rede sollten die Schüler meiner Klasse die wichtigsten Informationen über Kenia herausfinden und zusammentragen, bevor der Direktor einen Brief eines seiner Schüler übergab, der von seinem Schulalltag aus Kenia berichtete – nämlich eben den Lektionstext aus dem Buch. Zum Festhalten der wichtigsten Erkenntnisse bekamen die Schüler den Auftrag, einen Steckbrief der wichtigsten Aussagen aus dem Text zu filtern, um sie für die nächste Ausgabe der aktuellen Schülerzeitung zusammenzustellen. Diese hatte ich über Wochen als reales Magazin vorbereitet. Meine Schülerzeitung hatte einfach alles. Ich hatte ein Logo entworfen, ein Emblem, Fotos, Banner, ein komplett in sich stringentes Layout – alles auf DinA3-Bögen doppelseitig, gefalzt und getackert in einem Copyshop in Hochglanz ausdrucken lassen. Für eine Summe, die damals einen Großteil meines kargen Refi-Gehaltes verschlang.
Gipfeln sollte die Lehrprobe damals in einer Postkarte, die die Schüler dem imaginären Schüler auf seinen Text schreiben sollten. Reale Postkarten natürlich. Diese wurden dann am Ende der Lehrprobenstunde bei mir abgegeben, damit ich sie symbolisch an den Jungen (den es natürlich nie gab) abschicken konnte. In der nächsten Stunde wäre ich mit einem Antwortbrief angekommen, in dem sich der Junge für die Fanpost bedankt und der Klasse ein echtes afrikanisches Gericht mitgeschickt hatte – das natürlich ich zuhause gekocht hatte.
Wer spätestens an dieser Stelle ungläubig den Kopf schüttelt: Ja, ihr tut das zurecht. Auch ich bin etwas verstört, während ich diese Zeilen schreibe, wieviel Arbeit in dieser einen Stunde steckt. Aber Mitleidende werden es verstehen: Es ist eine Lehrprobe. Die Note, die auf diese Stunde gegeben wurde, bestimmte maßgeblich den Schnitt des zweiten Staatsexamens mit. Und in den mageren Zeiten, wo die Planstellen nicht an den Bäumen wuchsen, entschieden Lehrprobenstunden über eine direkte Anstellung nach dem Referendariat oder eben Arbeitslosigkeit.
Bevor die Frage nach der Note auch bei dieser Wahnsinnsstunde aufkommt, kann ich sie gleich beantworten: Ich bekam eine Zwei. Denn irgendwas hatte der Stunde letztendlich gefehlt. Nämlich die Schüler. Die kamen nämlich geschlagene 10 Minuten zu spät in den Unterricht, weil sie der Lehrer der Vorstunde nicht früher gehen lassen wollte (!!!). Als Reaktion darauf musste ich viele Phasen der Lehrprobenstunde quasi on the fly umwerfen und während der Stunde im Hinterkopf umstrukturieren, um genug Zeit für das Ziel der Stunde – nämlich die Postkarten – zu haben, das unbedingt erreicht werden musste. Ich hab in dieser Stunde echt Blut und Wasser geschwitzt. Und mit dem sauberen Kollegen, der mir 10 Minuten gestohlen hat, habe ich hinterher nie mehr ein Wort geredet.Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.1 -
Von Vorwehen zum Wandertag
Für Außenstehende mag es vielleicht so scheinen, als beginne für Lehrer die Ferienzeit schon einen Monat vor Schuljahresende. Die Noten sind gemacht, da machen die doch auch keinen Unterricht mehr, sondern liegen nur noch in der Sonne. Kundige und Leidensgenossen kennen allerdings die harsche Realität. Denn in den letzten vier Wochen darf das Lehrpersonal einiges mehr tun als nur vor Schülern oder am Schreibtisch sitzen. Er darf repräsentieren, organisieren, führen, in Konferenzen schwitzen, abstimmen und – ganz beliebt – den alljährlichen Wandertag koordinieren. Letzteres hat dieses Jahr besonders viel Freude bereitet. Nicht. Aber alles von Beginn:
Ich habe meine Klasse jetzt volle zwei Jahre begleitet. In Bayern ist es üblich, dass nach so einer langen Zeit eine “Beziehungspause” erfolgt, sodass nächstes Jahr jemand anders in den Genuss meiner Putzis kommen wird. Um unsere zwei Jahre zu einem gelungenen Abschied zu führen, haben wir uns zum diesjährigen Wandertag ein ganz besonderes Reiseziel gesetzt: Es verschlägt uns ins Allgäu auf eine Sommerrodelbahn. Um dort hinzugelangen, sollte uns die deutsche Bahn chauffieren. Und damit ging der Ärger los. Knapp drei Wochen vorher habe ich bei der Bahn angerufen, um unterschiedliche Finanzierungsmodelle durchrechnen zu lassen. Nehmen wir einen Gruppentarif? Oder gleich das Bayernticket? Als ich darum bitte mir die unterschiedlichen Möglichkeiten per eMail zuzuschicken, bekomme ich erst einmal eine Absage: Das sei aus technischen Gründen nicht möglich, man könne mir die Möglichkeiten aber diktieren und ich solle wieder anrufen, wenn sich die Klasse und ich auf ein entsprechendes Modell geeinigt hätten. Etwas verwundert lege ich auf und künde meinen Schützlingen nur zwei Zeitstunden später, was Sache ist. Als wir uns geeinigt haben, rufe ich erneut an, in der Hoffnung, die Tickets gleich buchen zu können. Mais non. Ich bekomme erklärt, dass ich telefonisch die Gruppe für die Fahrt lediglich anmelden könne. Kaufen müsste ich die Tickets am Bahnhof oder an einem Automaten. Viel besser noch: Da wir unterwegs einmal umsteigen müssen, hocken wir für die letzten Stationen im Zug eines privaten Unternehmens (dem ALX) – da müsste ich noch einmal gesondert anrufen, um auch dort die Fahrt mit meiner Klasse anzumelden. Sie selber könnten das nicht telefonisch machen, aber man gibt mir eine Nummer unter der ich das selbst erledigen könne. Etwas irritiert schreibe ich mit, rufe nun dort an, um – wie mir gesagt wurde – meine Fahrt anzumelden. Aber ich bekomme gesagt, dass das telefonisch nicht möglich sei. Ich solle die Fahrt und sämtliche Details in einer eMail an das Unternehmen richten.
Dieses Hin und Her hat mich ernsthaft fast zwei Zeitstunden gekostet. Für die Anmeldung einer Gruppe für eine Bahnfahrt. Die Anmeldung wohlgemerkt. Denn von einer Zusage sind wir noch weit entfernt. Es kann sein, dass uns ein Betreiber die Fahrt verweigert, da der Zug schon ausgebucht ist. In diesem Fall bekomme ich wieder eine eMail, auf die ich dann bestimmt wieder nicht telefonisch, sondern per eMail-Antwort oder bestenfalls überhaupt nicht mehr antworten soll.
Im Unterricht oder am Schreibtisch sitzen macht da deutlich mehr Spaß.
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Und Schluss
“Du hast 700 Follower bei Twitter” prangt es auf dem Smartphone, als ich auf dem U-Bahnhof auf dem Weg zu einer Verabredung bin. “Zeit für einen Jubliäumstweet”, denke ich mir. Eigentlich keine große Sache. Also Smartphone raus, Twitter-App auf, Tweet neu verfassen und Zack – nichts geht mehr. Erst friert der Bildschirm ein. Dann startet das Gerät neu, fährt sich hoch. Und bricht ab. Startet sich neu. Bricht ab. Startet sich neu. Bricht ab. Mehrere Male. Minutenlang. Erst denke ich mir nichts dabei und drehe meinem G4 den Saft ab. Akku raus – Akku rein. Bei diesem Smartphone geht das ja zum Glück noch. Aber das bringt keine Besserung. Der Bootvorgang geht immer von neuem los. Meine anfängliche Gelassenheit weicht so langsam einer gewissen Portion Irritation. Ich bin genervt. Mit meinem Kommilitonen habe ich über Whatsapp bisher nur einen ungefähren Zeitpunkt ausgemacht. Benachrichtigen, dass ich nicht mehr erreichbar bin, kann ich ihn nicht losschicken. Die Nummer ist ja im Smartphone gespeichert, das im Moment lustig Boot-Karussel fährt. Da komme ich nicht ran.
An nichts komme ich ran. Bilder, Musik, Kamera, Kontakte, Twitter, Whatsapp, eMail. Rien ne va plus. Treffen tun wir uns beide trotz aller Unwegbarkeiten dennoch – schließlich sind wir organisierte Lehrer 😉 Aber wirklich genießen kann ich das Treffen nicht. Ich bin ständig am Smartphone zugange, versuche permanent, das Gerät zu einem erfolgreichen Startvorgang zu “motivieren”. Ohne Erfolg. Was mein Kommilitone in Nürnberg an seiner Schule macht und erlebt – ich könnte es aktuell nicht wiedergeben. Die Worte gehen zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Ich bin mittlerweile nicht einfach nur genervt. Ich bin wirklich nervös. Nicht nur deswegen, weil mein komplettes digitale Leben in diesem Gerät gerade im Koma liegt. Sondern weil ich auf einmal merke, wie abhängig ich davon geworden bin. Ich würde meinem Kommilitonen so gerne Fotos der letzten Berlinfahrt zeigen und kann es nicht. Ich will die nächste gemeinsame Fortbildung in meinen Kalender eintragen – wie denn? Eine Wegbeschreibung zu dem netten Restaurant in der Altstadt mit Google Maps erstellen – no way. Da mein Gegenüber – seinerseits auch Altphilologe – sich natürlich moderner Technik konsequent verweigert, hat er natürlich auch kein Kulturzugangsgerät dabei. Wir werden es the old-fashioined way machen müssen. Und nach dem Weg fragen.
To cut a long story short: Das G4 hat in den frühen Modellen wohl einen Wackelkontakt, der diesen Bootloop auslöst. Ein ärgerlicher Fabrikationsfehler, der aber kostenlos behoben wird. Dennoch ärgerlich, weil ich jetzt für die nächsten Tage digital kastriert durch die Gegend wandeln darf. Und selbst wenn ich mein G4 wieder bekomme, darf ich meine digitale Identität wieder von Neuem aufbauen. Denn ein Backup habe ich nie gemacht. Als ehemaliger Samsung Jünger habe ich mich über Jahre mit dem wankelmütigen Kies herumgeschlagen, bis ich irgendwann mal kapituliert habe. Vielleicht funktioniert das Sichern mit LG-Geräten etwas besser. Ich werde es herausfinden. Denn ein Backup ist das Erste, was ich machen werde, wenn ich mein G4 in den Händen halte. Auch bei Smartphones verhält es sich scheinbar ähnlich wie bei den Tugenden der PC-Spieler: Save early, save often.Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.0 -
De Senectute
Langsam schleicht es sich an, haben sie gesagt. Man merkt es kaum, haben sie gesagt. Das Alter. Und es stimmt. Langsam hab ich das Gefühl, dass es von heute auf morgen an allen Ecken und Enden kracht. Mal kribbelt ein Finger, dann die Hand, dann der Oberarm, dann knackt die Wirbelsäule bei ruckartigen Bewegungen wie ein trockener Ast. Weh tut eigentlich rein gar nichts, aber man merkt, dass irgendwo im Körper was nicht passt. Trotz Fitnessstudios, in das ich mich seit mehr als zehn Jahren schleppe. Trotz eines unauffälligen Normalgewichtes. Irgendwann geht’s einfach los…
Ein Physiotherapeut hat mich letzte Woche durchgecheckt. Bei seiner Diagnose fühle ich mich wie ein alter VW kurz vor der Abwrackung. Meine gesamte Körperachse ist schief. Schief durch das jahrelange Tragen einer Lehrertasche, die scheinbar kein Limit im Fassungsvermögen kennt. Schief durch das ständige Verharren auf einem Standbein im Unterricht. Schief durch die vornübergebeugte Haltung am Schreibtisch beim Korrigieren und Vorbereiten. Schief wie der Turm von Pisa. Und das hat Auswirkungen. Große Auswirkungen. Meine Schultermuskulatur versucht wohl schon seit geraumer Zeit, diese Schiefstellung zur Seite und nach vorne auszugleichen und hat mittlerweile einfach kapituliert. Das Ergebnis: eine große Verspannung im Halswirbelsäulenbereich, die bei entprechender Behandlung fünf bis sechs deutlich spürbare Knoten erspüren lässt. Ein Sportlehrer hat mir zur Selbstbehandlung eine sogenannte Blackroll vermacht. Eine Art Tennisball aus Hartgummi, den man zwischen sich und eine flache Oberfläche (Fußboden oder Wand) steckt, um sein gesamtes Körpergewicht auf solche sogenannte Triggerpunkte zu drücken, die die Verspannungen auslösen. Diese gilt es mit der Blackroll zu lokalisieren und dann mit 80kg Eigengewicht das Fürchten und hoffentlich bald Auflösen zu lehren. Schmerzen!
Hilft nix: Da muss ich ran und dagegen arbeiten. Also darf ich jetzt eine neue Haltung antrainieren. Hoch mit dem Kopf! Beim Arbeiten gerade sitzen. Am besten mit einem Buch auf dem Kopf, damit ich aufrecht sitzen bleibe. Was die Nachbarn bei diesem verstörenden Anblick denken mögen, schiebe ich im Moment noch von mir. Parallel dazu wird im Fitness jetzt das Training umgestellt. Weniger Gewichte, mehr Wiederholungen, mehr haltungs- und rückenbetont. Wenn ihr also demnächst einen Lehrer seht, der wegen seiner Schwarzenegger-Schultern nicht mehr durch den Türstock passt, fragt mal nach: That’s me!
Passt auf euch auf!Hast du eine Meinung dazu? Dann hinterlasse einen Kommentar oder eine Wertung.0 -
Von einem bewegt-bewegenden Karfreitag
Es ist immer schön, wenn Verwandtschaft oder Freunde bei uns vorbeischauen. Vor allem für mich als Heimat-Münchner, der seine Geburtsstadt dann von einer Seite erlebt, die ich so nie kannte. Diesen Karfreitag zum Beispiel, wo wir uns aufmachten, den Friedhof des Stadtteils Bogenhausen zu besuchen – früher ein kleines Dorf vor den Toren von München, jetzt ein gehobenes Villenviertel, das viele Celebrities für sich entdeckt haben. Lebende wie auch tote. Denn letztere versammeln sich in illustrer Runde am örtlichen Friedhof und erinnern in ihren erfreulich zurückhaltenden Monumenten an ihre Glanzzeiten. Alle sind sie da: Erich Kästner, Bernd Eichinger, der unvergessene Monaco Franze Helmut Fischer, Walter Sedlmayer, der jüngst verschiedene Helmut Dietl. Normalerweise würde ich mir etwas schäbig vorkommen, wie ein Stalker toten Stars und Sternchen auf Friedhöfen aufzulauern. Aber heute? Es ist Karfreitag, es ist nass, es ist diesig, der Friedhof liegt verlassen und vollkommen ruhig. Es passt einfach. Und mittendrin sind wir, die der Verstorbenen gedenken und ihre Erfolge Revue passieren lassen – ganz so wie sie es gewollt hätten.
Es ist ein ganz schönes Stück von der Innenstadt da raus. Die Distanz hatte ich persönlich etwas unterschätzt. Aber der Weg ist schön und führt direkt durch den Englischen Garten. Und beim Anblick von Isarsurfern und verfrorenen Touristen, die im Nieselregen am Chinesischen Turm standhaft ihr erstes Münchner Bier süffeln, kann einem nur warm ums Herz werden. Das ist auch bitter nötig.
Denn als wir uns etwas verfroren zu unserem Auto am Fuß des Kirchberges wagen, knallt es plötzlich hinter uns gewaltig. Aus dem Augenwinkel sehen wir nur noch ein marodes Fahrrad den Berg hinunterkullern, gefolgt von einem jungen Mädchen, das sich mehrmals überschlägt und wimmernd am Fuße des Berges zum Liegen kommt. Als wir zu fünft hinstürzen um zu helfen, merken wir recht schnell, dass wir vor einem Kommunkationsproblem stehen. Das Mädchen spricht nur arabisch, wir selber sind mit unseren zusammengewürfelten Englisch-Französisch-Spanisch-Italienisch-Deutschkenntnissen leider aufgeschmissen. Wir verstehen einander einfach nicht. Da sie sich aber wimmernd den Arm hält, wird uns schnell klar, dass wir mit ihr ins nächste Krankenhaus müssen. Mit sämtlichen und zur Verfügung stehenden Gesten versuchen wir ihr unser Vorhaben verständlich zu machen. Vergeblich. Zwar versteht sie recht schnell, was wir vorhaben, aber sie möchte vorher ihrer Familie Bescheid geben. Ein Handy besitzt sie aber nicht, und sie in diesem Zustand die knapp drei Kilometer laufen zu lassen, wäre Irrsinn. Also bieten wir ihr mit Händen und Füßen an, sie nach Hause zu fahren. Nach Hause, das ist ein stillgelegter Trakt eines Siemens-Gebäudes in der Richard-Strauß-Straße. Eine Flüchtlingsunterkunft. Die erste, die ich jemals betreten habe.
Das ganze Gebäude schreit nach 70er Jahren. Ein protziges Statement aus Beton und Stahl, das den Witterungen tapfer getrotzt hat, aber langsam den Kampf verliert. Hinter dem regenverhangenen Himmel drückt der Grauklotz mächtig auf die Stimmung. Das Innenleben tut sein übriges. Büroräume mit 30 Jahre alten Teppichen versprühen den Duft von allem, was seit 1971 auf ihnen passiert ist, die Beleuchtung der kalten Neonröhren ist spärlich, die meisten Räume sind karg eingerichtet und voll von Menschen, die hier ihr Leben fristen. Einige spielen Schach oder Backgammon, andere tippen gedankenverloren auf ihren Smartphones oder schlafen, auf dem Gang erfreut ein kleiner Junge seine junge Schwester minutenlang mit Seifenblasen. Und mittendrin wir mit unserer Patientin. Am Empfang sitzen vier Afrikaner in Arbeitskleidung, die fließend Englisch und Arabisch sprechen. Als sie uns sehen, merkt man ihnen an, dass sie ebenso unsicher sind wie wir. Offensichtlich verirrt sich hier jemand selten hinein. Noch dazu dürfte der Anblick von zwei Männern, die ein offensichtlich verletztes Mädchen vor sich herführen, das eine oder andere Kopfkino in Gang bringen. Die Spannung löst sich recht schnell, als klar wird, warum wir hier sind. Wir bekommen alle ein Glas Tee gereicht und werden in ein Aufnahmebüro geführt, wo wir einem Mitarbeiter der Stadt München den Fall schildern. Der zögert nicht lange, ruft ein Taxi, um das Mädchen ins nächste Krankenhaus zu kutschieren. Ohne eine entsprechende offizielle Meldung gäbe es scheinbar bei einer Behandlung Ärger wegen des Versicherungsschutzes. Das verletzte Mädchen wirkt nun deutlich gelöster, signalisiert uns mit der gesunden Hand, ihr zu folgen. Wir werden von einem Portier in den ersten Stock begleitet, wo sich die Wohnräume der Flüchtlinge befinden, und zum Warten aufgefordert. Eine Zeitlang wissen wir überhaupt nicht, was uns erwartet. Wir werden neugierig beäugt, von Männern, von Frauen, von einem kleinen Mädchen, das immer wieder verstohlen um die Ecke linst. Einzelne sprechen uns auch an. In Deutsch, in Englisch, in Arabisch, aber dieses Mal sind es wir, die uns nicht verständigen können. Wir haben ja keine Ahnung, was wir hier sollen. Wir fühlen uns… fremd. Irgendwann geht eine Glastür zu den Büroräumen auf, die mit ein paar windigen Trennwänden zu Wohnräumen umfunktioniert wurden. Heraus kommt unsere Patientin mit einer notdürftigen Schlinge um ihren verletzten Arm und ihren Eltern, die sich mit Händeschütteln, Schulterklopfen und tiefen Verbeugungen bei uns fast eine Minute lang bedanken. Der Überschwang macht uns total verlegen, da durch die Übersetzungsarbeit des Portiers nun das halbe Stockwerk weiß, weshalb wir hier sind. Das Mädchen hinter der Ecke wagt sich aus dem Versteck und strahlt uns an. In einem Pulk von fast zehn Leuten bewegen wir uns alle ins Erdgeschoss zurück, wo mittlerweile ein Taxi wartet, um das verletzte Mädchen ins nahe gelegene Krankenhaus zu fahren. Der Münchner Mitarbeiter aus dem Aufnahmebüro steht neben uns, als wir uns verabschieden. Auf unsere Anmerkung, wie fix das hier alles organisiert wurde, bekommt er glasige Augen: “Das bekommen wir nach den ganzen Monaten zum ersten Mal zu hören.”
Wir gehen.
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