Alltag

Retrospektive – Teil 1

Ich kann sie wieder sehen. Die Entspannung in den Gesichtern der Kinder. Die Gelassenheit. Die Vorfreude auf die Ferien, die ich noch von meinen eigenen Schultagen kenne. Die Bücher sind abgegeben, der Unterricht liegt in den letzten Zügen, die Atmosphäre wird gelassener, die Temperaturen höher. Die Schultage sind gespickt mit Sommerfesten, Exkursionen, Wander- und Museumstagen – gekrönt vom Abistreich oder dem tot geglaubten Hitzefrei. Die Nachmittage verbringt man an Seen, an Flüssen – oder wie hier in München am Eisbach, in den sich die Großen und Großmutigen nach Schulschluss hineinstürzen und treiben lassen (eigentlich verboten, aber von der Stadt toleriert). Ich kann das begeisterte Schreien und Quieken der Schwimmer hören, wenn ich nachmittags im Lehrerzimmer meine Zeugnisse mache… und bin ein bisschen neidisch. Denn von Entspannung und Gelassenheit bin ich aktuell sehr weit entfernt.

Aus die Maus…

Sagen wir wie es ist: Es war ein schreckliches Schuljahr. Vermutlich das anstrengendste, das ich je erlebt habe. Grund ist diese ständige Unruhe im Schulablauf, mit der man ständig versucht hat, so etwas wie Normalität zu suggerieren, die es einfach nicht gibt. Schulschließungen sollten dieses Jahr um jeden Preis verhindert werden, Exkursionen und Fahrten wie üblich stattfinden. Das hat Folgen.

… für die Kinder

Mit dem Wegfall sämtlicher verpflichtender Coronamaßnahmen im Frühling haben die Krankenstände bei allen in der Schulfamilie sprunghaft zugenommen. Ständig war personell Not an Mann, Frau und Kind. Mit wirklich unangenehmen Folgen, die einen ruhigen Ablauf des Schuljahres völlig zunichte stampften: Mindestens fünf bis sechs Kinder fehlen im Schnitt täglich im Klassenzimmer. Nicht für ein oder zwei Tage, sondern eine komplette Woche. Die Absenzen sind so angeschwollen, dass die Absenzenheftführer kaum mit dem Eintreiben von Entschuldigungen hinterher kommen. Manche Eltern haben schon komplett den Überblick verloren und kapituliert. Teilweise haben wir Kinder, die aufs Jahr verteilt über 30 Tage nicht im Unterricht waren. Das sind 1,5 Monate verpasster Unterricht! Die Lernrückstände, die durch die ständige Abwesenheit entsteht, können die wenigsten aufholen. Ohne Zusatzangebote wird das schwer. Aber woher nehmen? Als Kollegium sind wir ja ebenso betroffen.

… fürs Kollegium

Durch die Krankenstände war es dieses Jahr unmöglich Prüfungen in voller Klassenstärke abzuhalten. Zu beinahe jeder Klassenarbeit musste ich eine Nachholschulaufgabe erstellen. Aus den 14 Prüfungen, die ich in meinen Klassen hätte abhalten müssen, sind dieses Jahr mal eben 27 geworden. Das sind 13 Zusatzprüfungen, die ich erstellen musste. 13 Prüfungen, für die ich jeweils ca. 2-3 Stunden benötige, bis sie inklusive Erwartungshorizont stehen. 13 zusätzliche Prüfungen, die einfach mal so zu machen sind. Zu dem anderen Wumms, den es sonst zu wuppen gilt. Vertretungen zum Beispiel, die derzeit auf Rekordniveau sind. Allein letzte Woche waren es sieben zusätzliche Stunden, die bei mir dafür anfielen. Die Arbeit bleibt ja nicht liegen, wenn jemand bei uns ausfällt. Irgendjemand muss sie übernehmen. Und wenn dann auch noch die Klassleitung wegen Corona ausfällt, ist man aus heiterem Himmel auch noch für die Erstellung der Zeugnisse zuständig. Für das Verfassen der Kommentare. Für das Vorbereiten der Klassenkonferenzen, die Vorbereitung des Wandertags. Das Eintreiben von Geld, Bescheinigungen, Infozetteln. Einfach mal alles zum Nulltarif zum üblichen Tagesgeschäft oben drauf. Mal wird getestet, mal nicht. Erst alle zwei Tage, dann alle drei. Manchmal mit Stäbchen, manchmal als Pooltest, der mit einer seitenlangen Anweisung daher kommt. Quarantäneregelungen änderten sich im Wochentakt. Mal bleibt die Klasse zuhause, mal die Kinder und deren Kontaktpersonen, die es erst umständlich zu ermitteln gilt. Dann nur das betroffene Kind selbst. Aber das soll auf einmal mit zusätzlichem Material für zuhause versorgt werden. Über Teams sei das ja kein Problem. Und die ausgefüllten Arbeitsblätter bitte auch gleich dazu. Oder am besten den Unterricht gleich aus dem Klassenzimmer streamen. Das ist abhängig von der Datenschutzerklärung der Eltern mal möglich, mal nicht. Und manchmal so halb. Und so streamt man mal, mal nicht oder schaltet jedes Mal das Mikro stumm, wenn Kinder im Raum etwas sagen, da Sprache ja nicht übertragen werden soll. Die Antwort soll man dann bei angeschaltetem Mikro einfach wiederholen. Das berühmte Lehrerecho ist wieder da. Was so ein Kampf mit Unterricht zu tun hat, ist mir ein Rätsel. Aber es wird gefordert. Und mal nicht. Und mal ein bisschen, abhängig davon, wieviele Kinder in der Klasse fehlen. Und irgendwann weiß man nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich bin erschöpft wie schon lange nicht mehr. Die letzten zwei Wochenenden verbrachte ich zum Großteil damit auf der Couch liegend an die Decke zu starren. Selbst für einen Biergartenbesuch mit Freunden habe ich aktuell einfach keine Kraft. Ich will nur meine Ruhe haben.

Hauptsache am Schuljahresende kann ein Anzugträger stolz in die Kameras der Nation verkünden “Der Unterricht an bayerischen Schulen war voll und ganz gewährleistet”. Ja, aber zu welchem Preis?

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4.4

23 Comments

  • Verena

    Unterschreibe ich zu 1000%. Ich war schon lange nicht mehr so unendlich fertig. Ich habe gefühlt noch nie so schlechten Unterricht gemacht, geschuldet den Fehlzeiten, der Unsicherheit, den Vertretungen und der unendlichen Bürokratie. Und das dann selbst krank und somit selbst auch insg. 11 Wochen AU, was die Kolleg:innen nochmal oben drauf bekamen. Und weißt du, was das Übelste ist? Ich habe wenig Hoffnung, dass das neue Jahr besser wird. Wir haben in den letzten Jahren so viele Kinder auf dem Weg “verloren”. Basiskompetenzen fehlen. Nach Medienkompetenz wird gerufen und scheitert an so vielen Sachen bei prekären Familiensituationen… Und Corona ist nicht vorbei, also wenn es nach der Administration geht, schon. Aber die Realität wird zumindest Lehrer: innen, Eltern und Schüler:innen im Herbst einholen. Auf die freien Tage! 🍻

    • herrmess

      Danke dir für den Kommentar! Ich wünsch dir erstmal erholsame Zeit. Und dass deine Befürchtungen nicht wahr werden… Was wohl nicht der Fall sein wird 😵‍💫

    • kecks

      Hier genau dasselbe. Du hast recht mit jedem Buchstaben und Leerzeichen und der Erschöpfung, mit der ganz besonders. Ich bin nur noch zynisch.

    • Ken Haddorf

      Lieber Herr Mess,
      Vielen Dank für Ihren Beitrag, der mir, obwohl in Norddeutschland lebend, total aus dem Herzen spricht, hier war es ähnlich. Ich bin nur zu müde, um so passende Worte zu finden. Gut, dass Sie es schafften.
      Nun bleibt mir nur der Wunsch, dass irgendetwas oben ankommt und es sich im nächsten Schuljahr für alle verbessert. Aber viel Hoffnung verspüre ich leider nicht.

      Herzliche Grüße

  • Nicole Wedwll

    Ich wollte unbedingt 5 Sterne für Ihren wirklich treffenden Kommentar geben; ganz zu schweigen von meinem vollsten Verständnis für Ihre Erschöpfung aufgrund dieses extrem anstrengen, fast nicht machbaren Schuljahres!!
    Wie Sie das hinbekommen, als Lehrer, als Team, als womöglich Vater, ist mir ein Rätsel.

    Als ich nun die Sterne ⭐️ ⭐️⭐️⭐️⭐️ berührte, blieben sie bei „drei“ hängen- was mich sehr traurig macht!!!
    Irgendwie ist das Rating zu sensibel- eben genau so wie sicherlich das Thema zur augenblicklichen Zeit!
    Mögen die Ferien Ihnen Kraft und Mut geben für das zu kämpfen, was Ihnen am Herzen liegt…
    Alles Gute 🍀

    • herrmess

      Vielen Dank! Auf dass es besser wird. Zumindest haben wir sämtliche Möglichkeiten durchgespielt, die technisch möglich sind. Nix mehr mit Neuland

  • Fontanefan

    Meine Gratulation! Das nenne ich Pflichtbewusstsein. Und das meine ich ehrlich.
    Wichtig ist ja authentische Information!
    Ich hätte aber großes Verständnis gehabt, wenn nach allen drei vier Sätzen gestanden hätte und und und …
    Denn man merkt ja, dass da vieles noch nicht einmal ansatzweise ausgesprochen ist.
    Aber die Aussage ist klar.

    • herrmess

      Du hast recht. Es sind viele kleine Pflichten und Aufgaben nicht zur Sprache gekommen, die angesichts der Gesamtmasse an Dingen nur Fußnoten gewesen wären. Jetzt haben wir es ja fast geschafft

  • Sebastian

    Hallo M.
    Hoffe die Ferien kommen ganz schnell. Nur dann haben die “Anzugtraeger” wieder gewonnen. Ich habe das Trauerspiel vom anderen / Elternende mitbekommen und kann dir nur zustimmen. Was Politik sich die letzten Jahre getraut hat wird sie nicht mehr zurückholen können. Meine Kinder haben komplett (!) das Vertrauen in die Lenkungsfaehigkeit unserer Politiker verloren. Die Irren News zu Maskendeals , Querdenkerei , und Klientelpolitik da noch außen vor.
    Traurig das alles. Umso wichtiger, dass Schule und Eltern zusammen gegen den Irrsinn aus dem Ministerium angehen. In diesem Sinne – carpe diem.

  • Herr Rau

    Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber ja, dieses Schuljahr (insbesodnere die zweite Hälfte) war sehr viel zehrender als die Jahre zuvor. 30 Fehltage sind wirklich keine Seltenheit, kommt in meinen Klassen immer wieder vor. Lehrkräfte fehlen reihum und werden vertreten. Fahrten finden statt, ziemlich geballt. Keine Reduktion von Prüfungen.
    Allerdings wirken die Kinder bei uns nicht besonders gestresst. Aber halt auch nicht sehr orientiert. Dennoch, es wäre sehr schön und dringend nötig, wenn das nächste Jahr anders verliefe. (Selber fliehe ich ja davor.)

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