Es ist totenstill, als Johnny seine Erzählung beendet. Die Schüler sind sichtlich betroffen. Einige haben Tränen in den Augen. Auch ich muss mehrmals tüchtig schlucken, als ich den Worten der Flüchtlinge lausche, die die Fachschaft Religion an unsere Schule eingeladen hat, um über ihre Situation zu reden. Und hier sind sie nun, eine bunt gemischte Gruppe aus Syrern, Irakern, zwei junge Männer aus Niger und einer aus Mali. Jeder mit seiner eigenen Geschichte, jeder mit seinem eigenen Päckchen, das er mit sich trägt und teilen möchte. Jedes für uns unvorstellbarer als das andere.
Johnny beispielsweise ist aus Niger nach Deutschland geflohen. In seinem Land herrscht Bürgerkrieg der blutigsten Sorte. Verschiedene Clans ziehen in seiner Heimatstadt mordend durch die Straßen. Wer hier einer anderen Sippe angehört, gilt automatisch als Feind und ist damit zum Töten freigegeben: Leute werden aus den Häusern gezogen und von Kugeln durchsiebt. Andere sterben durch Scharfschützen, die mal gezielt, mal aus Spaß wahllos Passanten auf der Straße erschießen. Johnny hat auf diese Weise seine Freundin verloren. Ihr wurde vom Dach eines Gebäudes eine Kugel in den Kopf gejagt. “She dropped like tree”, erzählt Johnny. Er selber konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen. Spätestens hier war für ihn klar, sein Heimatland verlassen zu müssen.
Ähnliches erzählt auch Ali, der aus Damaskus geflohen ist. Syrien hinter sich zu lassen, war für ihn die schwerste Entscheidung seines Lebens. Aber es ging nicht mehr anders. Das Land ist durch den mehrjährigen Bürgerkrieg und den IS völlig zerrüttet. Jede Region wird von einer der jeweiligen Mächte brutal kontrolliert, Städte werden belagert, die Bevölkerung ausgehungert. Über Wochen, Monate. Wie viel Leid diese Leute ertragen mussten, und wie erstaunlich distanziert unsere Gäste gerade von ihren grausamen Erlebnissen berichten, lässt dem unbeteiligten deutschen Wohlstandsbürger Schauer über den Rücken laufen.
Für die Flüchtlinge ist das nicht nur eine Veranstaltung. Für sie ist es auch ein Stück Bewältigungstherapie.
In dieser Situation bin ich vor allem auf unsere Schüler richtig stolz. Sie sind sichtlich betroffen, zeigen aber keinerlei Berührungsängste mit unseren Gästen. In wunderbarsten Oberstufenenglisch parlieren sie mit den Flüchtlingen, wenden das Hintergrundwissen an, das wir im Englischunterricht zu diesem Thema Monate vorher erarbeitet haben, stellen Fragen, die einer seriösen Talkshow würdig sind, frei von Parteien-Gedöns und Lobbyisten-Blabla: Wie seht ihr die Chancen, dass in Syrien wieder Frieden herrscht? Wie seht ihr die Einmischung von globalen Mächten in euren Bürgerkrieg? Wie erlebt ihr die Deutschen? Wie geht ihr mit eventuellen Anfeindungen um? Die Fragen sind toll gestellt, unsere Besucher versuchen sie nach besten Wissen und Gewissen zu beantworten. Dabei fällt immer wieder auf, wie unterschiedlich ein- und dasselbe Problem wahrgenommen wird. Während die Schüler sich in der Syrienkrise vor allem auf den IS konzentrieren, ist diese Organisation für die Syrer nur die Spitze des Eisberges. Das Hauptproblem ist für sie nach wie vor die Regierung, die bedingungslos gegen die eigenen Leute vorgeht. Ein Aspekt, den wir in der Syriendebatte mittlerweile zunehmend aus dem Auge verloren haben.
Genauso wie die Zeit, die wir für diese Veranstaltung anberaumt hatten. Aus den ursprünglich geplanten 45 Minuten werden 50, dann 60, dann schließlich 80. Aber wen juckt das? Die Schüler sitzen hier gerade in einer der wichtigsten Unterrichtsstunden ihres Lebens. Das hier ist echter Erfahrungsaustausch. Ein Blick auf ein Thema, jenseits von Zahlen und Fakten, hin zu persönlichen Einzelschicksalen, für die in den Medien selten Platz ist. Dabei würden derartige Veranstaltungen die Debatte so viel persönlicher machen und der Öffentlichkeit näher bringen… und gewisse Leute würden vielleicht zweimal überlegen, bevor sie ihren Mund aufmachen. Schade nur, dass lediglich ein Bruchteil der Deutschen dazu bereit wäre.
Über Gäste
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11 Comments
pimalrquadrat
Eine sehr schöne Begebenheit, und toll, wie sich dein Kurs da verhalten hat!
Den letzten zwei Sätzen möchte ich aber widersprechen. Ich denke, dass sehr viele Deutsche kein Problem mit Flüchtlingen haben, wie du sie im Kurs hattes. Wenn aber etwa 40% der ankommenden Leute aus dem Balkan, hauptsächlich Albanien und Kosovo, stammen (während parallel über einen EU-Beitritt Albaniens beraten wird), es keine Handhabe für kriminelle Flüchtlinge gibt, für die Aufnahme (zurecht) sehr viel Geld bereitgestellt wird, während zeitgleich Millionen Menschen Vollzeit arbeiten und trotzdem aufstocken müssen, für Schulen, Lehrer, Pflegepersonal etc. kein Geld vorhanden ist, dann kann ich Unbehagen bis hin zu Wut verstehen. Sofern sich diese gegen das Verhalten der Regierung und nicht gegen die Flüchtlinge selbst richten.
herr_mess
Ich meinte eher, dass die wenigsten dazu bereit sind, sich in so eine Veranstaltung zu setzen. Dass die meisten eigentlich sehr wohlwollend sind, ist mir klar. Hoffe ich zumindest…
pimalrquadrat
Ah, ok, dann hab ich dich missverstanden, bitte entschuldige!
tinatainmentia
Eine richtig tolle Idee, so etwas zu organisieren. Wirklich toll. Ich war auch sehr gerührt von unseren Schülern (und das waren ja noch jüngere, gerade mal Siebtklässler), wie sie mit den Flüchtlingen umgegangen sind. Solche Momente sind wertvoll und machen Hoffnung, was unsere eigene Gesellschaft betrifft.
Hauptschulblues
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herr_mess
Kannte ich noch gar nicht! Vielen Dank! Kommt auf jeden Fall auf meine to-be-read-Liste 🙂
Anna
Neben unserer Schule stehen seit letztem Jahr Container, in denen Flüchtlinge untergebracht sind. Die Flüchtlinge schauen auf unseren Schulhof. Leider dürfen wir sie nicht in unsere Schule zu einer Begegnung einladen, von oben so angeordnet, da einige Flüchtlinge Krankheiten wie Typhus mitbringen könnte, da sie evtl. nicht geimpft sind…
herr_mess
Eigentlich schlimm. Das schürt nur unnötig Vorurteile und vermittelt den Eindruck einer Zweiklassen-Gesellschaft (was es leider Gottes letztendlich auch ist). Sind die hier registrierten Flüchtlinge aber nicht auf Krankheiten durchgecheckt?
rhadamanthys
http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/rueckkehr-seltener-krankheiten-in-hessen-durch-fluechtlinge-13765465.html
http://www.stern.de/gesundheit/fluechtlinge-werden-medizinisch-oft-erst-nach-wochen-versorgt–6541516.html
Aber auch
http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/medizin-gefaehrdet-1.2800980
Bei der Tuberkolose dauert es mehrere Wochen von Infektion zu den ersten Symptomen, also nicht ganz einfach. Typhus kann ebenfalls mehrere Wochen Inkubationszeit haben.
Nebenbei, das Hauptproblem in Niger ist die Geburtenrate von ca. 7 pro Frau und damit kann kein Wirtschaftswachstum mithalten, zumal das Heiratsalter sehr niedrig liegt.
Bettina
Die Geburtenrate in Niger ist sicherlich hoch. Aber wieviele der Kinder überleben denn bis zum Erwachsenenalter? Und da es keine staatliche Absicherung wie in Europa gibt, die einem im Alter hilft, braucht man eben Kinder. Und da so viele sterben hat man viele. Es hilft auch nicht, daß die katholische Kirche immer noch schön ‘liebet und mehret Euch’ predigt und sogar die billigsten Verhütungsmittel, Kondome, verbieten. Bei anderen Religionen dort werden zwar Verhütungsmittel nicht angesprochen, aber die meisten Männer nehmen diese nicht gern, und die Frau, die vielleicht gerne weniger Kinder hätte, kann es nicht durchsetzen. Sofern es denn überhaupt welche zu kaufen gibt und man das Geld dafür hat. Es ist immer sehr einfach zu sagen, die Geburtenrate ist hoch, da kann kein Wirtschaftswachstum mithalten. In Europa war vor der Industrialisierung die Geburtenrate ähnlich hoch und ist erst mit dieser und dem Sozialsystem gefallen.
abgebrochenerbleistift
Solche Veranstaltungen sollte es viel öfter geben! Wir haben an unserer Schule seit diesem Halbjahr eine Sprachlernklasse mit Flüchtlingen, aber leider wurde sich bis jetzt noch nicht für so einen offenen Dialog zusammengesetzt – ganz zu schweigen davon, dass wir als Schüler nicht einmal über das Zustandekommen einer Sprachlernklasse informiert wurden. Stattdessen wurde immer nur um (materielle) Spenden gebeten. Dabei wäre es doch viel schöner, wenn man wirklich Hand in Hand zusammenarbeiten könnte! 🙂